„Amerika schien ein so gleißender Ort zu sein, ganz anders als das dunkle, grimmige Europa, das ich weit hinter mir gelassen hatte“, atmet Harry Hertzko „Herschel“ Haft auf, als er endlich bei seinem Onkel in New York ankommt und mit ihm der Leser, denn Herschel musste zuvor in deutschen Konzentrationslagern um sein Überleben kämpfen und verlor während des Krieges beinahe seine ganze Familie. Das einzige was die ganze Zeit über am Leben erhalten hatte, war aber der Gedanke an Leah, der Gedanke, dass wenigstens sie überlebt haben könnte und sich in Amerika in Sicherheit vor den Deutschen gebracht haben könnte. Genau das ist auch der Grund, warum Herschel in die Schlagzeilen will, und zwar auf die Titelseite, damit sie ihn wiedererkennt. Herschel, der schon im Lager von seinen Bewachern zum Faustkampf gezwungen wurde, versucht nun in Amerika als Boxer durchzustarten, um seine große Liebe endlich wiederzusehen, riskiert er nochmal sein Leben, das an einem dünnen Faden hängt, da sich auch die Mafia schon in seine Kämpfe einzumischen beginnt und ihn bedroht, sollte er nicht bereit sein zu verlieren.
Am Höhepunkt seiner Boxer-Karriere kämpft Herschel dann sogar gegen Rocky Marciano, den unbesiegten Schwergewichtsweltmeister, der später auch gegen Joe Louis oder Muhammad Ali gekämpft haben wird. Herschels eigene Boxbilanz: 13 Siege, 8 Niederlagen, aber den Kampf gegen Rocky kann er nicht gewinnen, denn dieser wird protegiert. Die Graphic Novel von Reinhard Kleist hält sich in vielen Details an die wahre Geschichte des Boxers aus Belchatow und breitet quasi in Cinemascope die Tragödie eines Mannes aus, der sein Leben lang nur einen Gedanken hatte, nämlich die Liebe seines Lebens wiederzufinden. Oder vielleicht ist genau das das, was den Beitrag Kleists zur Biographie Hafts ausmacht, denn die Geschichte von Harry Hertzko „Herschel“ Haft wurde zuvor von seinem Sohn in dem Roman „Eines Tages werde ich Dir alles erzählen“ erzählt und er ist nicht der Sohn von Leah. Die Begegnung zwischen Herschel und Leah gehört übrigens zu traurigsten und herzzerreißendsten Wiedersehen der Graphic Novel Literatur: „Ikh hob dikh keynmol nit fargesn“, flüstert Leah vom Treppengeländer und verschwindet wieder in ihr Krankenlager.
Aber auch die Schilderungen (und Zeichnungen) des Konzentrationslagers und der Verbrechen der Deutschen im ersten Teil der Geschichte sind so eindringlich und authentisch, dass selbst Art Spiegelman („Maus“) diesem Comiczeichner Respekt erweisen müsste. Und das Schlimmste an der Geschichte von Harry Hertzko „Herschel“ Haft ist natürlich, dass sie wahr ist, dass dies alles wirklich geschah, inmitten Europas, in einer der zivilisiertesten Nationen der Welt. Reinhard Kleist hat eine einfühlsame Geschichte gezeichnet und erzählt, die selbst die Hartgesottensten erschüttern wird und auch um etwas Verständnis für diese Generation wirbt, die alles verloren hat und dennoch irgendwie überlebte.
Reinhard Kleist
Der Boxer
Hardcover, 17,50 x 24,50 cm, 176 Seiten
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-03-03)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.