Wenn ein ehemaliger Politiker über die Zeit seines politischen Wirkens ein Buch schreibt, impliziert dieses nicht selten die Gefahr, dass die Darstellung dazu dienen soll, die eigenen Aktivitäten in einem sehr positiven Licht erscheinen zu lassen. Henry Kissinger, der ehemalige Politikprofessor und Außenminister unter den amerikanischen Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford, war in der Verantwortung, als die USA unter Nixon die Position des eigenen Landes in der sich ändernden globalen Machtkonstellation neu justierten. Das vor allem durch den Korea-Krieg in den fünfziger Jahren schwer belastete Verhältnis zu China sollte unter dem Aspekt der Auseinandersetzung um die Vormachtstellung in der Welt mit der damaligen Sowjet auf neue Füße gestellt werden, da die Widersprüche zwischen den einstigen Verbündeten im kommunistischen Lager deutlich wurden und Signale aus China kamen, die eindeutig gegen die Sowjet gerichtet waren.
Wohltuend und bereichernd sind die Verweise Kissingers in seinem Buch China. Zwischen Tradition und Herausforderung auf das historisch gewachsene Selbstverständnis Chinas seit seiner hegemonialen, aber nicht imperialen Vormachtstellung in der Welt. Der Rekurs auf den Sino-Zentrismus und die Erklärungen in Bezug auf die chinesische Denkweise hinsichtlich internationaler Beziehungen und der eigenen dominanten Stellung sowie die Einlassungen über den Opium-Krieg, den Niedergang des Kaiserreichs und die japanische Besatzung helfen, um die Positionen des Neuen Chinas, das unter Führung Mao Zedongs seit 1945 das Gesicht des Landes bestimmte, zu verstehen.
Die Kapitel des Buches, die sich mit Kissingers eigener Rolle in der Vorbereitung einer gemeinsamen diplomatischen und politischen Agenda zwischen China und den USA befassen, sind mitnichten eine Beweihräucherung der eigenen Rolle. Sie werden benutzt, um die politischen Entwicklungen des Landes vom Anti-Imperialismus bis zur Kulturrevolution und deren Schwanengesang zu erklären und die Positionen des Führungspersonals von Mao bis Zhou zu dechiffrieren. Besonders aufschlussreich sind die Kommentare zu den Wortprotokollen, die Kissinger ausführlich nutzt, um dem Leser aus dem Westen die an Parabeln angelegte Ausdrucksweise in die konkreten innen- wie außenpolitischen Zusammenhänge zu erklären. Dazu gehört ein sehr ausgeprägtes Verständnis der chinesischen Symbolik und feinsinnigen Diplomatie.
Auch die weiter führenden Kapitel, die sich auf den nach zwei Verbannungen wieder hoch gekommenen Deng beziehen und den Bruch darstellen zwischen dem Anliegen der Kulturrevolution, die tradierten Denkweisen niederzureißen und dem Desaster, welches dieser Bürgerkrieg im Land in Bezug auf die Intellektuellen und die Produktivkräfte angerichtet hatte, und den Übergang zu der Entwicklung darstellen, die die Volksrepublik zu einem Wirtschaftsgiganten und Global Player ersten Ranges gemacht haben, sind von Kenntnis gesäumt, kommen ohne Ressentiments aus und bestechen durch Objektivität.
Die chinesische Reformpolitik und der Aufstieg des Landes, der nicht korrespondierte mit einer breiten Demokratisierung des Landes, nutzt Kissinger nicht, wie viele andere westliche Beobachter, um den Stab über das Land zu brechen, sondern er versucht, die Spezifika der chinesischen Denkkultur zur Erklärung für Entwicklungen zur Hilfe zu nehmen. Das kann Verstimmung bei denjenigen auslösen, denen das Defizit an Demokratie nicht gefällt, was mehr als verständlich ist, und gerne eine negative Etikettierung hätten, was nicht weiter hilft. Um die Großmacht, die sich derzeit anschickt, mit wirtschaftlichen Mitteln ihre Märkte in den USA und Europa zu sichern, besser zu verstehen, eignet sich das Buch in hervorragender Weise.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2011-09-18)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.