Wenn einer nicht ausgehen könne, solle er Kisch lesen, meinte einst Kollege Kurt Tucholsky und tatsächlich sind seine Geschichten so unterhaltsam, dass man gar nicht mehr ausgehen will. Egon Erwin Kisch kennt seine Heimatstadt wie seine Hosentasche und genauso weiß er vieles über seine Bewohner zu erzählen, jene die man tagsüber trifft, aber auch jene, die sich nachts so herumtreiben. Wohl kaum jemand konnte die Prager Gassen und Nächte so gut beschreiben wie er, denn er gehört einfach dazu, mit seinem Blick für das Außergewöhnliche im Alltäglichen beschrieb er immer wieder Szenen aus Spelunken rund um den Hradschin, in denen sich häufige Gäste der Polizei herumtrieben und die k. u. k- Soldaten kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein Spottlied auf die Disziplin des Kanoniers Jaburek anstimmen, der dann auch titelgebend für diese Kurzgeschichtensammlung Kischs wurde. „Nur eine Ausnahme gibt es: das Lied vom Kanonier Jaburek. Zu dessen Gesang vereinigen sich Landwehrmänner mit Heeressoldaten, die Träger der schwarzen mit jenen der grauen Mützen, Infanteristen und Sanitätssoldaten, die Soldaten, die Wunden schlagen, und die Soldaten, die Wunden lindern, die Pioniere, die im Kriege Bauten errichten, und die Artilleristen, die im Kriege Bauten zerstören. Es ist ein hochheiliger Kantus.“
Spöttischer Hohn mit viel Augenzwinkern
Ähnliches könnte man auch von den Geschichten Kischs sagen, denn auch sie vereinigen ganze Generationen von literatur- und auch erlebnishungrigen Lesern, so amüsant und augenzwinkernd sind seine Schilderungen. Für eine Reportage über Obdachlose hat er sich höchstselbst in „Fulldreß“ (O-Ton) geschmissen, um das zu erleben, wovon andere nur vom Hörensagen etwas wissen. Als er uaf dem Bett, die Batsckoren (Lderpantoffeln) anzieht bekommt er aber gleich von der Aufsicht sein „hajzl“ ab, ein „vschivák“ sei er, ein echter. Mit den Leidensgenossen versteht er sich da schon besser. „Was ist dein Beruf?“ laute die Frage im Asyl, denn mit der Antwort darauf sei alles Wissenswerte schon mitgeteilt. „Nach den Namen wird nicht gefragt. Namen sind Schall und Rauch.“ Ein Steirer fühlt sich von ihm „gepflanzt“, ein anderer schnorrt ihm seine Suppe ab. So ein Reporter, der kann eben was erzählen. Auch das Alltagsleben in der Prager k.u.k. Stadt nimmt er ins Visier: auf der Kaiser Franz Joseph Brücke gab es tatsächlich noch Mauteinnehmer, die einen Heller für die Benutzung der Brücke verlangten. Die Häuschen gibt es übrigens heute noch, die „Zöllner“ aber längst nicht mehr. Wer zu viel verlange oder unfreundlich sei, treibe seine Kundschaft aber ohnehin zur Konkurrenz, so ein erboster Wortwechsel, denn außer der Karlsbrücke wurde damals über jede Brücke ein Wegzoll verlangt.
Sakra! Der Mayer war`s…
Das Augenzwinkern Kischs bei seinen Erzählungen zeigt sich in der Geschichte über das Cafè Kandelaber. Hier wurden um fünf Uhr früh noch „Retten“ bestellt, wie die Zigaretten um diese Tageszeit der Einfachheit halber hießen. Wer hätte ein so langes Wort zu vorgerückter Nachtstunde denn noch aussprechen können? Eben. Eine andere Geschichte führt den Leser zum Spion Oberst Redl, der bei einer angeblichen Zahnbehandlung in der Aleschgasse gesehen wurde, aber wer weiß schon, was er dort wirklich gemacht hat? Schließlich war er doch ein Spion! Selbst Lenin, der Führer der Kommunistischen Partei Russlands, wird von Kischs Spott nicht verschont, denn der Mondratschek hatte ihn noch gekannt als er der Mayer war. Erst wunderte dieser sich noch, warum ihm immer Grüße von dem Herrn aus Russland überbracht wurden, doch dann schießt’s ihm ein: „Sakra, weißt du wer dieser Lenin ist? Das ist unser Mayer!“ Die Uljanow, der er nach Moskau immer Briefe nachschickte sei auch einmal bei ihm gewesen: „Und die Memoiren der Krupskaja sagen mir nichts Neues. Dass sie damals Knödel vorgesetzt bekam, weiß ich nicht. Daß sie damals Pferdefleisch vorgesetzt bekam, weiß sie nicht.“
Reportagen über historische und neue Kriminalfälle, Razzien, Streifzüge durch Kischs Heimatstadt bei Tag und Nacht, illustriert mit vielen Abbildungen aus Kischs Prag zeigen ein altes, versunkenes Prag, das in den Erzählungen Kischs unsterblich geworden ist. „Was aber der Mondratschek, der alte Sozialdemokrat nicht weiß, ist das: dass er der Sache der internationalen Arbeiterschaft einen großen Dienst erwiesen hat, aus Gefälligkeit für einen Fremden, der unauffällig aussah und sich Mayer nannte.“ Sollte man hinzufügen: einen Bärendienst?
Egon Erwin Kisch
Das Lied von Jaburek
SALTO. 2015
144 Seiten. 11 x 20 cm. Leinen mit Prägung und aufgeklebtem Schildchen
Mit zahlreichen Abbildungen
15,90 €
ISBN 978-3-8031-1311-5
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-11-23)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.