Ein rauchender Affe? Ein Mann in glitterbesetzten Hot Pants? Fliegende Menschen? Eine Frau in Unterwäsche und mit Peitsche? Ein brüllender Löwe? Es gab eine Zeit in der die Großstädte der Welt noch feste Zirkusinstitutionen hatten, also gemauerte, nicht diese Zelte, die auf Tournee gehen, sondern echte, mit Strom sogar oder unterirdischen Ställen. Wir sprechen hier aber nicht von der Epoche des Römischen Imperiums, etwa dem Circus Maximus oder dem Colloseum, sondern vom 19. Jahrhundert, in der etwa Paris eine solche Zirkusmetropole war, die über mehrere „echte“ Zirkusse verfügte. Heute gibt es nur mehr einen, den „cirque d’hiver“, aber wer etwa heute durch St. Petersburg spaziert wird zumindest noch einige Spuren mehr entdecken, denn auch im real existierenden Sozialismus war der Zirkus noch eine wirkliche Attraktion. Jewgeni Kusnezow, ein Petersburger Publizist, definierte ihn 1931 im ersten wissenschaftlichen Werk zum Thema, als „eine Einheit der Vielfalt“. Der Zirkus verknüpfe Darbietungen, die sich in Entstehung, Form, Charakter und Inhalt unterschieden zu einem Ganzen“. Auch die Zusammensetzung des Publikums sei durchaus vielfältig gewesen, fügt Kirschnick hinzu, denn der Zirkus sei „Massen- und Populärkultur sui generis, weil er alle sozialen Milieus und Altersgruppen“ anspreche und einbinde. Ein geradezu „soziologischer Naturschutzpark“ sei der Zirkus laut dem Philosophen Walter Benjamin gewesen, ein „Ort des Klassenfriedens“ und im Gegensatz zum Theater habe hier die Wirklichkeit das Wort, nicht der Schein.
Pferde: „Aller valser“
Die Beziehung Mensch und Tier stehe eigentlich im Mittelpunkt eines jeden Zirkus, schreibt Sylke Kirschnick, und dabei vor allem die alte aufklärerische Frage, was der Mensch eigentlich mehr sei, ein Tier oder ein Mensch? „Zivilisierte“, vermenschlichte Tiere können etwa Zigarren rauchen, Rechenschieber betätigen oder Tee trinken und Kanonen abfeuern, aber sprechen, nein, sprechen, das hat nicht einmal der Zirkus die Tiere gelehrt. Tod Browning war einer der ersten, der in seinem Film „Freaks“ den Zirkus in den Film holte und auch zeigte, wer die wahren Tiere waren, der Mensch nämlich, der andere quält oder verspottet. „Aller valser“ war die Aufforderung, die man zuerst an die Pferde richtete, denn sie waren es, die für den Zirkus immer schon unverzichtbar waren, das Kunst- und Dressurreiten feierte seine Hochblüte im Zirus. Die berühmten Pferdchen Emir und Negus tanzten vor den hochwohlgeborenen Augen preußischer Prinzen und Prinzessinnen schon im Jahre 1860 Walzer und waren sicherlich nicht die ersten, die vor so „edlem“ Publikum ihre Künste zeigen durften. Ihre Dresseure bekamen dafür manchmal sogar das Adelsdiplom, wie etwa Elise Petzold, die später - an einem anderen Hof – Kaiserin Elisabeth das Reiten beibringen sollte.
Clowns: Aller rider
Es gab aber nicht nur Vorstellungen vor Adeligen und Königen und Kaisern, sondern auch Gratisvorstellungen vor Obdachlosen, Armen und Waisenkindern, Frauenvereinen, der Feuerwehr und der Presse. Wohltätigkeitspflege galt damals noch als staatsbürgerliche Pflicht und war weit entfernt von der heutigen Imagepflege der Stars, denen es nur wichtig ist im Rampenlicht zu stehen, statt wirklich Gutes zu tun. Clowns spielten in der Manege zu Pferd und zu Fuß eine wichtige Rolle, so etwa der erste Clown der Welt, Louis Auriol aus Paris, der schon 1850 die Zuseher mit halsbrecherischen Sprüngen über ein Dutzend Grenadiere überraschte oder einen Kopfstand tanzend auf Flaschenhälsen jonglierte. Ein anderer prominenter Clown inspirierte Johann Nestroy zu seiner Posse „Der Affe“: Edward Klischnigg erfand eine akrobatische Figur, die im Theater an der Wien ihre Premiere erlebte und seither nach ihm benannt wird. (Ein Klischnigger ist eine Art Kautschukmensch, der extreme Biegungen und Dehnungen mit seinem Körper sowohl nach hinten als auch nach vorne ausüben kann.) Die Figur des Clowns stamme aber eigentlich aus den Harlekinaden des 18. Jahrhunderts, wie Kirschnick erklärt, die karnevalesken Stegreifspiele der italienischen Commedia dell’Arte waren ihre Grundlage und gleichzeitig ihr Ursprung. So wundert es nicht, dass der vom Wiener Joseph Stranitzky erfundene Hanswurst ebenfalls eine Figur aus der Fastnacht ist, die tölpelhaft, possenhaft eine gefräßige, einfältige und bauernschlaue Dienerfigur darstellt resp. repräsentiert. Einer der berühmtesten Clowns war aber der Engländer Joe Grimaldi, der auch die hohen Weihen der Literatur erhielt, nämlich durch keinen Geringeren als Charles Dickens und im Film „A Clockwork Orange“ durch Stanley Kubrick eine dunkle Referenz erhielt. Jean Gaspard Deburau gilt als zweiter Spiritus Rector der Zirkusclowns und interpretierte seinen „Pierrot“ eher Wienerisch: bleich, verträumt, naiv und schwermütig, boshaft und schadenfroh, aber von unerfüllter Liebe gequält und natürlich vom Missgeschick verfolgt. In der Manege wie im wirklichen Leben übriges: er erschlug einen Halbstarken und wanderte dafür ins Gefängnis. Der berühmte Reporter Egon Erwin Kisch widmete ihm die Arbeit „Pierrot, der Totschläger“.
Artisten: Aller aller…
Seilläufer, Trapezkünstler und Saltospringer…das sieht hat man heute nicht einmal mehr im Zirkus, denn die „fliegenden Menschen“ sind vielleicht gerade aufgrund der Gefährlichkeit Ihres Berufes ausgestorben. Das Comicgenre ließ sie unlängst zwar wieder in der Realität aufleben (die fliegenden Graysons), aber vielleicht sind diese Menschen ohnehin keine Menschen wie Felix Krull in Thomas Manns Roman schon fragte. Oder kann es wirklich möglich sein, dass ein Mann auf einem Seil, gespannt über die Niagara-Falls, sich in aller Ruhe Spiegeleier brät und die ganze Szene dann auch noch in aller Seelenruhe fotografiert? Chevalier Blondin war tatsächlich nicht der einzige dem dies gelang, aber der erste. Maria Spelterini folgte ihm knappe dreißig Jahre später, mit verbundenen Seilen überschritt sie die berühmten Wasserfälle, vielleicht war das sogar leichter so. Andere Zirkusfamilien bauten Pyramiden auf dem Seil oder fuhren Rad, manche arbeiteten am Maste, wiederum welche am Trapez. Jules Leotard war einer der ersten, der durch die Luft flog und Saltos schlug, später folgten Gruppenarbeiten wie von den drei Codonas. Akrobaten und Artisten, Jongleure, Tierbändiger und hommes crocodiles, Sylke Kirschnick lässt eine versunkene Welt wiederauferstehen, in der es teilweise brutal zuging und sich die Frage, ob Mensch oder Tier wohl genauso stellte, wie in der anderen, noch viel raueren Wirklichkeit im Büro.
Viele Bilder und zeitgenössische Plakate ergänzen den großformatigen Band, der jedem Zirkusfreund wie ein Familienalbum erscheinen wird. Eine Kulturgeschichte, einer beinahe verschwundenen Kultur, der fast schon etwas Mythisches anhaftet.
Sylke Kirschnick
Manege Frei!
Die Kulturgeschichte des Zirkus
Theiss Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-02-11)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.