Bodo Kirchhoff ist ein Sprachkünstler und gehört seit vielen Jahren nicht nur zu den hervorragendsten Schriftstellern deutscher Sprache, sondern spätestens seit seinem Freundschaftsroman „Eros und Asche“ auch zu meinen Lieblingsautoren.
Seine sprachmächtige und doch bescheidene Schreibkunst stellt er auch in seinem neuen Buch „Widerfahrnis“ mit viel Poesie überzeugend unter Beweis. Nicht ohne Grund wurde es für den Deutschen Buchpreis 2016 nominiert.
Bodo Kirchhoff hat die Gattung der Novelle gewählt um eine Geschichte zu erzählen, die zwei ältere Menschen auf eine gemeinsame Reise führt, eine Reise, auf der sie die Liebe neu entdecken, aber auch hart und unerbittlich mit dem Leid und dem Schicksal der Flüchtlinge konfrontiert werden, die über das Mittelmeer nach Europa kommen, sich eine bessere Zukunft erhoffend.
Reither, der männliche Protagonist der Novelle, war bis vor kurzem Verleger eines kleinen, aber anspruchsvollen Kleinverlags in einer deutschen Großstadt, aber weil es mittlerweile „mehr Menschen gibt, die schreiben als lesen“ hat er seinen Verlag liquidiert und lebt nun von dem bescheidenen Erlös in einem ruhigen Tal am Alpenrand.
Er hat sich noch nicht richtig dort eingelebt, hängt immer noch seinen Erinnerungen nach und versucht, sich neu zu erden, als er in der Bibliothek seines neuen Wohnortes ein Buch ohne Titel entdeckt, auf dem Umschlag nur den Namen der Autorin.
Er rätselt noch über dieses Buch, das die tragische Geschichte einer Frau und ihrer lebensmüden Tochter erzählt, als es abends an seiner Tür klingelt. Vor der Tür steht, so stellt sich im Laufe des Abends heraus, Leonie Palm, etwas jünger als Reither, eine Frau, die früher ein Hutgeschäft besaß, das sie aber aufgeben musste, weil niemand mehr nach Hüten verlangte. Angeblich will sie Reither als Fachmann für einen aus Frauen bestehenden Lesekreis gewinnen, Frauen, die alle selbst sich im Schreiben versuchen. Doch, Reither vermutet es schon bald, es stellt sich heraus, dass es Leonie Palm vor allem um ihr eigenes Werk geht, das sie mit voller Absicht, Reither würde es finden, in der Bibliothek liegen gelassen hatte.
Obwohl Reither zunächst überhaupt nicht nach Gesellschaft zumute war, kommen die beiden sich innerhalb weniger Stunden immer näher und fassen noch in der Nacht den Entschluss, mit dem Cabrio von Leonie Palm nach Süden zu fahren. „Widerfahrnis“, so hat Leonie auf seine Frage geantwortet, wäre der Titel gewesen, den sie ihrem Buch gegeben hätte. Und ein Widerfahrnis erleben die beiden nun auf einer Fahrt, die sie in drei Tagen bis nach Sizilien bringt.
Dabei begegnen sie nicht nur einer Liebe, auf die sie beide nicht mehr vorbereitet sind, sondern auch, zunächst nur angedeutet, auf Sizilien dann manifest, Menschen, die unter elenden Bedingungen eine neue Heimat in Europa suchen.
Schon als Reither und Palm den Brenner passieren, beschreibt Kirchhoff ein Lager von Flüchtlingen unter freiem Himmel. Später dann immer wieder.
Erst als sie in Sizilien – ihr gemeinsames Glück können sie kaum fassen- vor ihrem Hotel einem Mädchen begegnen, das sie geradezu zu verfolgen scheint, schiebt sich eine andere Realität in ihr bisher kaum zu glaubendes spätes Glück.
Wie es ausgeht, wird hier nicht verraten, nur, dass der Leser sich gar nicht losreißen kann von wunderbaren Landschaftsbeschreibungen, die die beiden Protagonisten auf ihrer Reise durchfahren. „Widerfahrnis“ ist ein sprachliches Meisterwerk und zeigt Bodo Kirchhoff auf der Höhe seiner literarischen Kunst.
Der deutsche Buchpreis war mehr als verdient.
Bodo Kirchhoff, Widerfahrnis,tb, DTV 2018, ISBN 978-3-423-146418
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2018-09-03)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.