Tanja Kinkel, geboren 1969, ist eine der erfolgreichsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen in unserem Land. In über ein Dutzend Sprachen übersetzt, feiern ihre Romane auch im Ausland große Erfolge. Thematisch hat sie bisher eine große Bandbreite bewältigt: von der Gründung Roms bis hin zum Amerika des 21. Jahrhunderts reicht ihr literarisches Spektrum.
Nun hat sie sich in ihrem neuen Roman „Schlaf der Vernunft“, einer Thematik gewidmet, die sie wahrscheinlich auch persönlich schon lange umtreibt. Die Geschichte der Rote Armee Fraktion und ihres Terrors in der alten Bundesrepublik und die Debatten um die Begnadigung verurteilter Terroristen, die Ende der neunziger Jahre die innenpolitische Debatte in der Republik für eine kurze Zeit bestimmte.
Sie hat dazu Figuren erfunden, wie es sie in der Realität durchaus gegeben haben könnte. Geschickt verwebt sie hervorragend recherchierte historische Fakten und Geschehnisse mit einer intensiven Beziehungsgeschichte zwischen einer Tochter und ihrer Mutter.
Die Tochter, Angelika Limacher, hat, nachdem ihre Mutter Martina Müller in den siebziger Jahren nach dem Tod von Holger Meins in den Untergrund ging, jeglichen Kontakt mit ihr abgebrochen. Als Martina Müller nun im Jahr 1998, der Gegenwartsebene des Romans, im Rahmen einer innenpolitisch motivierten Initiative der Regierung begnadigt wird, hat das Folgen nicht nur für ihre Tochter, sondern auch für die ehemalige Sympathisantin und jetzige Bundestagsabgeordnete Renate, die bei den Grünen aufgestiegen ist und sich in der möglichen neuen rot-grünen Regierung ein Regierungsamt erhofft.
Folgen hat die Freilassung von Martina Müller aber auch für die Verwandten der Opfer jenes Anschlages auf den Staatssekretär Werder, für den Martina Müller verurteilt wurde und für den einzigen Überlebenden, den Personenschützer Steffen.
Tanja Kinkel hat ihren Roman so aufgebaut, dass die Frage, wie sich all diese Personen ihrer Vergangenheit stellen, wie so etwas wie Verarbeitung des damaligen und aktuellen Geschehens möglich ist, verknüpft wird mit der Rekonstruktion dessen, was damals geschehen ist. In zahlreichen Rückblicken erzählt sie Martinas und auch Renates Geschichte einer politischen Radikalisierung, die für die eine im bewaffneten Kampf und für die andere im Marsch durch die Institutionen endete.
Deutlich wird vor allem dem Leser, der diese bleierne Zeit nicht miterlebt hat, wie sich der RAF-Terror entwickelte und wie er lange, unverarbeitet, wie ein Schatten über dem ganzen Land lag. Vom Kaufhausbrand in Frankfurt, über die Befreiung Baaders u.a. bis hin zum Göttinger Mescaleroartikel im Jahr 1977 wird die Geschichte literarisch sehr gut aufbereitet und in eine dichte Rahmenhandlung eingewoben, in der das Verhältnis zwischen Angelika und ihrer Mutter im Mittelpunkt steht. Die vielen Gespräche, die sie nach ihrer Freilassung auf Sylt führen, wohin die beiden zunächst einmal auch gegen den Willen von Angelikas Mann Justus gefahren sind, waren für mich der inhaltliche Schwerpunkt eines Buches, das versucht zu verstehen, wie aus einer normalen Frau eine Mörderin werden konnte, und wie alle Beteiligten nach 20 Jahren zum Teil verzweifelt versuchen, mit den Folgen dieser Tat in ihrem Leben fertig zu werden.
Gibt es so etwas wie Reue und Einsicht auf der einen Seite? Und gibt es einen denkbaren Ansatz von Versöhnung und Neuanfang auf der anderen? Das Buch gibt keine eindeutige Antwort, aber es stellt die richtigen Fragen.
Wer sich mit der Geschichte der RAF befassen will im Kleid eines spannenden und bewegenden Romans, dem sei dieses Buch sehr empfohlen.
Tanja Kinkel, Schlaf der Vernunft, Droemer 2017, ISBN 978-3-426-30506-5
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2017-01-26)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.