Er ist gerade fünfzehn Jahre alt, geht in einer deutschen Stadt zur Schule, nimmt aktiv an den Protesten und Versammlungen der Friedensbewegung teil und hat auch bei der Blockade des Verteidigungsministeriums 1983 mitgemacht. Navid Kermani, intelligenter und engagierter Sohn persischer, aus dem Iran emigrierter Eltern, ist für sein Alter schon ein reifer und politisch bewusster Mensch, der in der ESG ein und aus geht und auch von älteren Friedensfreunden anerkannt ist.
Doch für die Raucherecke seines Gymnasiums ist er nicht alt genug. Das ist ein Problem, denn dort steht „die Schönste der Schule“, eine junge Frau, die schon Auto fährt und die es ihm angetan hat. „Das erste Mal hat er mit fünfzehn geliebt und seither nie wieder so groß.“
So erinnert sich der Mittvierziger, Schriftsteller und Experte für islamische Mystik, Navid Kermani im Jahr 2013 an eine kurze Phase großer Verliebtheit und beginnt seine Erinnerungen aufzuschreiben. Anlass ist ihm die Lektüre einer Anekdote des persischen Dichters Attar (über ihn hat er schon 2005 ein Buch geschrieben: Der Schrecken Gottes: Attar, Hiob und die metaphysische Revolte. Beck, München 2005), wo es heißt:
„Ein König reist durch das Land, in seinem Gefolge Minister, Generäle, Soldaten, Beamte, Diener und die Damen seines Harems. Am Wegrand sieht er einen alten zerlumpten Mann kauern, einen Narren vielleicht. „Na, du würdest wohl auch gerne ich sein“, ruft der König spöttisch von seinem Elefanten herab. „Nein“, antwortet der Alte, „ich möchte nicht ich sein.“
Es ist der Gedanke, sich als Pubertierender selbst loszuwerden, in dem er seine erste Liebe begründet sieht. Und an die erinnert er sich in einhundert kurzen Kapiteln, die die Tage bezeichnen sollen, die er brauchte, um seine Geschichte aufzuschreiben. Tatsächlich hat die ganze Episode wohl nur wenige Tage gedauert, in dem der Junge alle Extreme der Verliebtheit erlebt. Das erste Mal von der Angebeteten beachtet werden, der erste Kuss, der erlebt wird wie ein Sakrament, drei unvergessliche Nächte eher unbeholfener Sexualität…
Doch kaum hat er von dieser Liebe gekostet, die ihn mitreißt wie ein Fluss, ist sie auch schon wieder zu Ende, und die junge Frau beendet abrupt eine Beziehung, in die sie eher hineingeschlittert ist, als dass sie sie bewusst gesucht hätte.
Navid Kermani verknüpft diese persönliche Geschichte und seine erinnerten Erfahrungen mit vielen Erzählungen aus der arabisch-persischen Liebesmystik, um zu verstehen, was damals mit ihm geschehen ist. Er muss diese Geschichte erzählen, nicht nur weil er seinen eigenen 15- jährigen Sohn, der am Ende die Geschichte liest, besser verstehen will, sondern auch sich selbst und den Schmerz, der bis heute in ihm schwärt:
„Gedauert hat die große Liebe, um die mein Gedächtnis so viel Aufhebens macht, keine Woche, gerechnet vom ersten Kuss bis zur Trennung, der Trennungsschmerz natürlich länger, in gewisser Weise bis heute, sonst würde ich nicht unsere Geschichte erzählen.“
Es ist so etwas wie die Angst vor dem Verlust dieser Erfahrung, die ihn zu dieser melancholisch gefärbten Erzählung treibt; ohne Nostalgie, ohne Satire beschreibt Kermani ein unschuldiges Entflammtsein in der Liebe und im politischen Engagement der damaligen Zeit, wie es heute so nicht mehr möglich ist.
Für den Leser, der sich mystischen Texten öffnen kann, bieten die immer wieder in den Text eingestreuten Weisheiten aus dem 9. und 10. Jahrhundert eine Fülle von Reflexionsmöglichkeiten. Ich kann mit jedoch auch vorstellen, dass das Buch Lesern jeden Alters Erinnerungen daran zurückbringt, wie das war, als sie zum ersten Mal geliebt haben.
Navid Kermani, Grosse Liebe, Hanser 2014, ISBN 978-3-446-24474-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-02-13)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.