Man könnte ihm stundenlang zuhören. Doch, ehrlich!
Kehlmann verfügt über jene schöne Begabung, tausend Mal vor ihm bereits besprochenen Autoren wie Stendhal oder John Updike etwas abgewinnen zu können, was einerseits nur eine Handvoll Seiten dauert, sich flüssig und frisch liest und dabei ein Gefühl hinterlässt, man habe das Wesen der Textkunstwerke jetzt ganz neu verstanden. Lexikonwissen, das man sich im Internet ergooglen könnte, lässt er hinter sich. Die Art Bildungs-Buch, die man gern öfter läse. Wenig Belesene könnten es „mal so anlesen“ und tatsächlich was „mitnehmen“, mehr als aus Schwanitz‘ berühmtem Buch „Bildung“, von dem ja nur etwas hat, wer es vorher schon gewusst hat. Schade allerdings, genau wie beim quasi Folgeband, „Lob“, dass es vorher keinen Plan für ein solches Werk gegeben hat, dass es eine zufällig sich ergebende Abfolge von Gelegenheitstexten ist. Wenn eben ein Geburtstag anlag oder ein berühmtes Buch neu übersetzt worden war, fragte man den zusehends bekannter werdenden Jungautor oder halt auch wieder nicht.
Die meisten der Essays sind zwischen 2001 und 2004 entstanden, vor „Die Vermessung der Welt“. Von Herrn Kehlmann gab es fünf Titel am Markt: „Beerholms Vorstellung“, „Unter der Sonne“, „Mahlers Zeit“, „Der fernste Ort“, „Ich und Kaminski“. Jedes ein wenig besser als sein Vorgänger, bis aufs zweite, das ist restlos vergessenswert. Jedenfalls: Der Mann war als Schriftsteller nicht durchgesetzt. Dennoch geht er 2003 hin und veröffentlicht „Eigene Bücher lesen“, hier im Band das persönliche Schlusswort, in dem er schwört, Schriftsteller würden alles andere lieber tun, als die eigenen alten Texte noch einmal nachlesen. Es habe diesen einen mal gegeben, der auf die Frage „Welches Buch würdest du auf eine einsame Insel mitnehmen?“ sagte: „Meins“. Und es wäre dies wohl vernünftiger als die gesammelten Werke von Botho Strauß. Sonst aber müsse der Autor einer Wiederbegegnung mit seinen Büchern aus dem Weg gehen. Dort fänden sich Stellen, von denen er sich nicht erklären könne, wie sie ihm je gelingen konnten. „So gut wirst du nie wieder“, wird er sich selber jetzt demontieren. Anlässlich von „Wo ist Carlos Montúfar“ ist das eine erheiternde Ansicht. Niemals vorher in seinen erzählerischen Bänden war Kehlmann so gut wie in diesem Essayband.
Daniel Kehlmanns gern etwas übergescheit tuender Magischer Realismus in späteren, natürlich nicht missglückten Romanen wie „Die Vermessung der Welt“ (2005) oder „F“ (2013) mag man als eine unterhaltende Trivialliteratur für Leute mit fundierter Feuilletonhalbbildung und für nicht unbedingt epochal und bleibend halten. Es hat dies alles ja auch was von Moderne à la 1960. Er orientiert sich an Meistern jener Tage: John Barth, Borges, Leo Perutz, Tolkien. Man übersieht bis jetzt vielleicht seine größere Begabung: die des angenehm wenig voraussetzenden und ohne Verquastheiten artikulierenden Fremden- bzw. Schlösserführers im Land der Romane. Kauft also „Wo ist Carlos Montúfar?“, „Lob“ oder „Kommt, Geister“! Sie machen Laune beim - und fürs - Lesen.
Zitat:
Vieles an Leichtigkeit und Verspieltheit verschwand hinter der formalen Strenge und minutiösen Beschreibungstechnik, die bei Proust und Joyce auf sehr unterschiedliche Weisen zur Perfektion kommen sollten; nie wieder fand der Roman zu solchen Höhen ausufernder Komik wie bei Sterne und Rabelais, zu solcher satirischer Schärfe wie bei Swift und Voltaire, zu einer solch zweckfreien Verschlungenheit wie bei Jean Paul. Mit Flaubert setzte sich das bis heute bestimmende Stilideal der modernen Erzählprosa durch, die „impeccabilité“, die Makellosigkeit: das Ideal eines Textes, in welchem kein Wort verändert werden könnte, ohne das Werk in seiner Gesamtheit zu schädigen. Dass so etwas Rabelais, Cervantes oder Jean Paul nie eingefallen wäre, ist für unzählige Schwächen in ihren Büchern ebenso verantwortlich wie für deren größte Stärken und unverwüstliche Robustheit. An die Stelle der um ihrer selbst willen aufgehäuften Fülle trat nun die Komposition.
Vieles an Leichtigkeit und Verspieltheit verschwand hinter der formalen Strenge und minutiösen Beschreibungstechnik, die bei Proust und Joyce auf sehr unterschiedliche Weisen zur Perfektion kommen sollten; nie wieder fand der Roman zu solchen Höhen ausufernder Komik wie bei Sterne und Rabelais, zu solcher satirischer Schärfe wie bei Swift und Voltaire, zu einer solch zweckfreien Verschlungenheit wie bei Jean Paul. Mit Flaubert setzte sich das bis heute bestimmende Stilideal der modernen Erzählprosa durch, die „impeccabilité“, die Makellosigkeit: das Ideal eines Textes, in welchem kein Wort verändert werden könnte, ohne das Werk in seiner Gesamtheit zu schädigen. Dass so etwas Rabelais, Cervantes oder Jean Paul nie eingefallen wäre, ist für unzählige Schwächen in ihren Büchern ebenso verantwortlich wie für deren größte Stärken und unverwüstliche Robustheit. An die Stelle der um ihrer selbst willen aufgehäuften Fülle trat nun die Komposition.
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2015-10-15)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.