Wem das zu nutzlos ver-schein-philosophiert war, sollte unbedingt die Finger von den fünf ersten Kehlmann-Büchern lassen. Die drehen sich alle im Kreis solcher Schriftsteller-Zauberlehrling-Ideen wie „Es könnte doch sein, wenn es natürlich auch nicht wirklich ist“ und scheinen das ganz neu und erfrischend zu finden. Eigentlich sind sie alle ja nur ein Buch, das zwar als Trick nie funktioniert hat, aber dann gleich noch mal probiert worden ist.
Weitaus bestes Buch vor „Die Vermessung der Welt“ war „Ich und Kaminski“. Dort kommt ein augenzwinkernder, dabei blinder, möglicherweise nicht wirklich blinder Altmeister vor, der Maler Kaminski; hier ist es ein blinder Mönch, bei dem Beerholm studiert. Wie in „Der fernste Ort“ geheimnist Kehlmann gern und viel herum, als werde er uns schließlich verraten, was die Welt im Innersten zusammenhält, was, seiner Ansicht nach, Tod ist, wer Gott ist, wo man sein wird, wenn man nicht mehr ist. (Gleich verraten: Er sagt es sowieso nie.) Wie in „Mahlers Zeit“ geht es um einen Burschen, der schon als Kind Fremdkörper war im Elternhaus, mittlerweile aber Genie ist - oder es sich vielleicht nur einbildet um zu kompensieren. Und auch jener groteske Unfall in der Familie passiert hier. In „Mahlers Zeit“ wird die Schwester von der Straßenreinigung geköpft, in „Beerholms Vorstellung“ die Mutter beim Wäscheaufhängen vom Blitz erschlagen. Alle Motive aus Kehlmanns zweitem Buch, der Kurzgeschichtensammlung „Unter der Sonne“ (die aber wahrscheinlich sowieso schon davor entstanden war) sind zu finden. Der Tod des Lehrmeisters: Als Beerholm ihm endlich eine Weltreise zu schenken vermag, fällt das Flugzeug van Rodes vom Himmel ins Schwarze des Ozeans hinab. Am Ende dann auch noch die mysteriöse Auflösung des Erzählers in die Leere wie bei der Kurzgeschichte „Schnee“. Die Feuer-Faszination: Wie Gott möchte Beerholm Dornbüsche in Brand setzen. Die Flucht ins große Abenteuer, die sich als (höchstwahrscheinlich) Illusion herausstellt. Die Beschäftigung mit der ruhmreichen Geschichte aller vergangenen Welterklärungen, in „Unter der Sonne“ mit der Philosophie, hier mit der katholischen Theologie, irgendwann verärgert abgebrochen, weil sie nichts als Unsinn hervorbringt. (In „Mahlers Zeit“ ist es die Mathematik, die vielleicht alle Geheimnisse klären kann.) Der junge Einzelgänger, in dem Zerstörungslust aufflammt. In „Unter der Sonne“ ein Steinwurfattentat auf einer Autobahnbrücke und ein getöteter Hund, hier Arthur Beerholm, der die Damen des Publikums ihre Frisuren zerraufen und Gläser fallen lassen kann, Beerholm, der ein Schaufenster zerschlägt.
In allen fünf Büchern immer wieder der vereinzelte junge Mann - als entweder Ich-Erzähler oder als vom Erzähler nicht unbedingt geliebter Protagonist, alles andere im Buch auf die Gedankenwelt dieses Einzelnen ausgerichtet. Über Fußball könnte Kehlmann nie schreiben, dort spielen zweiundzwanzig Leute miteinander, bei ihm immer nur einer mit der Erkenntnis der Welt. Auch undenkbar, dass Kehlmann eines dieser Bücher aus der Innensicht einer jungen Frau heraus erzählt hätte. Dass ein Protagonist wenigstens einen Gegenspieler oder aber Buddy haben sollte, wie ja erst in „Ich und Kaminski“ dann mal wirklich, als der verlogene Sebastian Zöllner sich mit dem trickreichen Kaminski anlegt, es war ihm hier so halb bewusst. Den entspannten Zauberer van Rode sehen wir gern, aber bald tritt er wieder ab. Selbst an einer Geliebten versucht Kehlmann sich, an einer Fantasiegeliebten aber. Wir sind dabei, als Beerholm sie sich ausdenkt, also wundern wir uns wenig, dass sie im ganzen Buch nicht eine Silbe zu sagen erhält, obwohl doch das Ganze nur aus Liebe zu ihr geschrieben worden ist.
Manchmal wäre es hilfreich zur Einschätzung von Büchern, die man noch nicht gekauft hat, wenn jemand einem die Stellen im Klappentext zeigen könnte, die einen irrigen Eindruck vorsätzlich erwecken. Ohne Grund wird so was kaum getrieben. Hier kann man lesen: „Als Lehrling bei einem berühmten Magier findet Arthur Beerholm zu seiner Berufung. Bald füllt er die Säle der großen Städte mit begeisterten Zuschauern.“ Wie sehr verändert sich der Wahrheitsgehalt dieser Sätze, sobald man erfährt, dass der Ich-Erzähler Beerholm seinen Lehrer van Rode erst nach der Hälfte des Romans kennen lernt, der ihm auf Seite 150 (von 250) den alles entscheidenden Auftritt vermittelt, Beerholm von Seite 175 an der große Star ist, um den es im Buch angeblich geht.
Wenn man die verschiedenen Figuren und Erzählfäden der ersten fünf Kehlmann-Bücher für einen Moment in den Hintergrund schiebt und sich voll auf die innere Gestimmtheit beim Lesen konzentriert, fühlt es sich an, als habe ein sehr von sich eingenommener Autor einem darzulegen versucht, dass er zwar ja ein wenig ein Nerd ist, aber dafür ein ganz Großer, ein richtiges Genie. Sogar seinen „Doktor Faustus“ hat er abgeliefert. Im ersten Buch schon. „Beerholms Vorstellung“.
Bei folgendem Zitat will Beerholm van Rode erklären, warum er bei ihm in die Lehre gehen musste, bei niemand sonst. Weil es diesen Tischtrick gegeben hat, die absolute Unmöglichkeit. Ob er das Geheimnis erfahren dürfe? Und van Rode weiht ihn ein: Alles ist ein Traum, eine Geschichte, ein Buch. In keiner der seinerzeitigen Kritiken sei diese Stelle erwähnt worden, beklagte in einem späteren Interview Daniel Kehlmann die Leseschwäche unserer Literaturkritik. Aber vielleicht hatten ein paar Rezensenten diese Zeilen zwar wahrgenommen, sie aber nicht ganz so witzig und geistreich gefunden wie ihr Schöpfer.
Zitat:
Er lachte: „Ihnen ging es damals nicht sehr gut, nicht wahr?“
„Woher wissen Sie das?“
Er beugte sich vor, hielt sich an meiner Rückenlehne fest und sagte leise: „Arthur, Sie ziehen die Grenzen zu eng. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis, ein sehr großes und streng gehütetes Geheimnis, von dem alle wissen, außer Ihnen. Das hier ist ein Traum. Ich meine das nicht philosophisch. Gott bewahre! Es ist wirklich einer. Und zwar Ihrer. Wir alle gehören dazu, jeder von uns ist Ihre Erfindung. Wenn Sie aufwachen, sind wir weg, nichts mehr, gelöscht, es hat uns nie gegeben.“
Er lachte: „Ihnen ging es damals nicht sehr gut, nicht wahr?“
„Woher wissen Sie das?“
Er beugte sich vor, hielt sich an meiner Rückenlehne fest und sagte leise: „Arthur, Sie ziehen die Grenzen zu eng. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis, ein sehr großes und streng gehütetes Geheimnis, von dem alle wissen, außer Ihnen. Das hier ist ein Traum. Ich meine das nicht philosophisch. Gott bewahre! Es ist wirklich einer. Und zwar Ihrer. Wir alle gehören dazu, jeder von uns ist Ihre Erfindung. Wenn Sie aufwachen, sind wir weg, nichts mehr, gelöscht, es hat uns nie gegeben.“
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2014-10-04)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.