„Wir leben alle in derselben Tragödie, die irgendwann, wenn das Blut getrocknet ist, zur unterhaltsmaen Groteske erstarrt“, so einer der wohl einprägsamsten Sätze in dieser Dokumenation über den russisch-sowjetischen Politiker Wladimir Iljitsch Uljanow, besser gekannt unter dem Pseudonym Lenin, „der von der Lena kommt“, obwohl er eigentlich Wolgin heißen hätte müssen,da er eigentlich aus Simbirsk stammt. „Am Ende ist jeder Wachs für das Gruselkabinett der Geschichte“, ergänzt der Kommentator, der in süffisant dramatischer und überheblicher Intonation die Lebensstationen des „Großen Diktators“ in einem Filmessay erzählt. Dabei wurde vor allem an Originalschauplätzen gedreht und viele der Plätze aufgesucht, die auch heute noch von Lenin’s Existenz zeugen. Die in der französischen Schweiz gelegene Stadt Geneve etwa huldigt auf einem Turm mit einem Relief den einstigen Bewohner der „cité de refuge“, der Stadt der Zuflucht. Die in Stein gehauene Allegorie der Stadt wacht über einen barfüßigen Lenin, der ihr zu Füßen liegt und tatsächlich war Lenin Zeit seines Lebens so etwas wie ein politischer Flüchtling. Streetcredibility oder der Bruder des Cäsarenmörders
In Zürich lebte er in der Spiegelgasse 14 und noch heute erinnert an dem schönen Wohnhaus eine Gedenktafel an den prominenten Besucher. Hier soll er an seine Schwester den Satz geschrieben haben: „Ich muss was tun, sonst krepiere ich vor Sinnlosigkeit und unbefriedigtem Ehrgeiz.“Auch Büchner („Friede den Hütten, Krieg den Palästen“) soll in der Nähe gewohnt haben und hier schon setzt dieser überhebliche Ton an, der sich durch die ganze Dokumentation zieht und Lenin als Emporkömmling beschreibt, der nicht nur den Palästen, sondern auch den Hütten Krieg und Verderbnis gebracht hätte. Lenin wird immer wieder als Diktator beschrieben, der zwar für die Befreiung gekämpft habe, aber nicht für die Befreiten und mit den Objekten seiner Befreiung – den Proletariern also – gar nichts gemein gehabt hätte, auch deswegen, weil er aus einem reichen gutbürgerlichen Elternhaus stammte. Die Initialzündung seiner Biographie, gleichsam das Trauma seines Lebens, war die Hinrichtung seines älteren Bruders Alexander. Dieser hatte versucht den Zaren Alexander III. zu ermorden und wurde stattdessen im zarten Alter von 21 aufgehängt. Damit hatte sich Lenin wohl für sein Leben lang eine Art Faustpfand eingehandelt, denn mehr „streetcredibility“ – also revolutionäre Glaubwürdigkeit – hätte er bei seinen Kampfgenossen gar nicht bekommen können als durch dieses einfache Fakt, der Bruder eines Cäsarenmörders zu sein. Später soll das aufsäßige Kind Wladimir über seinen Bruder liebevoll ironisch geäußert haben: „Ich habe mich geirrt. Wer so viel Zeit auf die Erforschung von Regenwürmern verwendet, kann kein Revolutionär sein.“ Der Klassenbeste (außer: Logik) ging dann auf die Universität, um Jus zu studieren, doch der Ruf seines Bruders war ihm schon vorausgeeilt und so musste auch die Familie die Stadt bald verlassen. Lenin, der Sommerfrischler
Die Dokumentation ist immer wieder bemüht, Lenin auf die vermeintliche Widersprüche seiner Biographie festzunageln und neben seiner fehlenden proletarischen Herkunft auch sein partnerschaftliches Lotterleben anzuprangern. So wird dezidiert und mit verhalten ironischem Unterton extra darauf verwiesen, dass Lenin in seinem Pariser Exil gleich zwei Frauen beglückt habe oder besser: sie ihn. Auf der einen Seite seine wunderschöne Kampfgenossin Krupskaja, die für sein geistiges Wohl sorgte, auf der anderen Seite Ines Armand, eine Frau französisch-schottischer Herkunft, die für sein leibliches Wohl sorgte. „Ausrufezheichen setzte er wie Leuchttürme. Was blieb sind Fragezeichen.“, heißt es gleich am Anfang dieser Dokumentation, die es sich augenscheinlich zum Ziel gesetzt hat, Lenin moralisch und politisch zu diskreditieren. Kein Wort fällt etwa über die Zustände in Russland vor dem bolschewistischen Umsturz oder darüber, dass die Menschen ja nicht ohne Grund revoltierten und eine breite Basis für einen Systemwechsel in der Bevölkerung da war, sonst wäre wohl auch Lenins Putsch nur sehr schwer gelungen. Der „Sommerfrischler“ (O-Ton) ging gerne auf die Jagd und bei der Revolution 1905 entging der Sohn der Gutsbesitzerin nur knapp einer Enteignung, denn nachdem seine Mutter das Gut verkauft hatte, wurde der neue Gutsbesitzher durch eine Meute 1905er Revolutionäre einfach erschlagen. Marx lived in soho
„Ihm öffneten sich nur Bücher“, heißt es im Kommentar, aber wohl auch Frauenherzen. So schrieb die Krupskaja einmal, er sei zwar boshaft und trocken, aber genau deswegen wirke er ja so anziehend auf sie. Im Deutschen Theater in Berlin habe er Hauptmanns Weber gesehen und diverse Kneipen zu seinen Kanzeln gemacht. Besonders wohl das Münchner Hofbräuhaus, denn hier findet sich heute noch ein Zitat der Krupskaja: „Ich erinnere mich gerne an das Hofbräuhaus in München, wo alle Klassenunterschiede verwischt werden“. Jordan Jordanov – so eines seienr vielen Pseudonyme – wohnte damals in Schwabing, in der Siegfriedstrasse 14. Die beiden lebten gut, auf Kosten der Organisation, wie Krupskaja später schrieb. Im Britsh Museum in London habe Lenin auf Marxens Spuren weitere Bücher studiert. In der Verbannung hatten sie schließlich geheiratet, und noch 1900 bestand für Lenin ein Verbot, sich in größeren Städten aufzuhalten. „Ich bin braungebrannt und habe zugenommen. Da sieht man, was die Jagd und das Leben auf dem Lande aus einem machen“, soll der Sommerfrischler einmal gesagt haben. Die Weltrevolution und der Bürgerkrieg
In den Revolutionsjahren sei er immer wieder aufgetaucht, habe getobt und sei dann wieder untergetaucht. Berühmt sind seine Aprilthesen und anderen Reden und schließlich sein Sieg, nach dem es bald in den Straßen hieß: „Nieder mit Lenin und seinem Pferdefleisch, gebt uns unsern Zaren und Schweinefleisch!“, so der Kommentar. Aber eine Mehrheit der russischen Bevölkerung wollte den Zaren nicht zurück und hatte sich für eine revolutionäre Politik entschieden. Die Jahre des Bürgerkrieges, des Weißen und Roten Terrors, waren natürlich traumatisch, aber dennoch muss betont werden, dass Lenin die Mittel dieses Terrors – also Tscheka usw – nur als vorübergehende Mittel angewandt haben wollte. In der letzten Phase des Bürgerkrieges habe Lenin gar befohlen, den Terror und die Organe der Unterdrückung einzuschränken.1922 wollte er die „Gesamtrussische Tscheka“ zu „staatlichen politischen Gerichten“ umfunktionieren, so etwa der Historiker Wolfgang Leonhard (1979). Darüber findet sich in der Dokumentation aber kein Wort, genausowenig wie über Lenins Testament, in dem er ausdrücklich vor Stalin und seinem Charakter warnte und Trotzki als den fähgisten Mann in der Partei bezeichnete. Ein besonders rührendes Filmdokument zeigt am Ender der vorliegenden Dokumentation die Krupskaja mit Lenin, wie sie eine Katze streicheln. Aber auch Stalin ist anwesend. Er sollte es sein, der den „Sozialismus in einem Lande“ mit Terror aufbaute und nicht mehr auf die Weltrevolution, auf die Lenin und seine Genossen gewartet hatten, setzte. 1920, zum 50. Geburtstag Lenins wurde der Grundstein für den Stalinkult gelegt, denn dieser instrumentalisierte den Marxismus-Leninismus und den Leninkult zur Festigung seiner eigenen Macht. Nachdem die Novemberrevolution 1918 in Deutschland, die der Beginn der Weltrevolution hätte sein sollen, auch gescheitert war, musste selbst Lenin zugeben, dass vielleicht doch alles umsonst gewesen war. Oder doch nicht?
Ullrich Kasten; Hans-Dieter Schütt;
Lenin - Drama eines Diktators
DVD, 90 Minuten, Polyband/WVG
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-05-25)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.