"Nimm mir die Angst und du hast mich ganz und gar", bittet Olga den Landvermesser K. Aber welche Angst sie meint, erschließt sich ihm nicht. Olgas Angst ist nur vordergründig die Angst ihn zu verlieren. Die eigentliche Angst ist die Angst vor der Macht, die mit Schmutz unvermeidlich verbunden ist. Die Verbindung von Herrschsucht und Koprophilie hat schon de Sade hergestellt, denn jeder Ausübung von Macht ist ein schmutziges Geschäft im genauen Wortsinn vorausgegangen.
Der Landvermesser als Messias
Als der Landvermesser K. zu der Gemeinschaft des Dorfes beim Schloss trifft, wird er alles andere als freundlich aufgenommen. Aber der Graf hat ihn bestellt und so müssen ihn seine Untergebenen wohl oder übel doch akzeptieren. Der Literaturkritiker W.G. Sebald hatte in einem Essay die Figur des Landvermessers mit der Christi gleichgesetzt. "In ihm hat sich ein Archetyp des Exilierten gebildet, eines von seiner Heimat weit Abgekommenen, eine Gottes im Elend", so Sebald. Tatsächlich ist die Berufsbezeichnung K.s mit der Designation Landvermesser nämlich ein strategisch gesetztes Kryptogramm. Das hebräische Äquivalent Moshoyakh lautet "einer der mißt", was wiederum homophon mit dem hebräischen Verb "salben" ist. Deswegen unterscheidet sich das hebräische Wort für den Messias, das Wort Moshiayakh/der Gesalbte von Moshoyakh/Landvermesser nur um einzigen, in der hebräischen Schrift nicht aufgezeichneten Vokal. Die messianische Dimension sei also eine von Kafka selbst intendierte Bedeutungsebene des Schloß-Romans, so Sebald. In diesem Zusammenhang erwähnt Sebald auch den Begriff Parusie, also die Wiederkunft Christi am Jüngsten Tag.
K.: Held mit einem Flügel
Was sich die Bewohner des Dorfes nämlich sehnlichst wünschten, wäre jemand der kommen, um dem Einhalt gebietet, alles wieder zu einer rückläufigen Bewegung zwingt. So wird der Landvermesser zu "einem Chiffre einer der Gegenwart perzentuell vorauseilenden Zukunft, Chiffre der dem Elend eingeschriebenen, niemals eingelösten Hoffnung auf Erlösung". Das Problem dabei ist allerdings, dass der Messias erst dann kommen wird, wenn er nicht mehr nötig sein wird, so Kafka in "Hochzeitsvorbereitungen". Das Gegenteil von Furcht sei aber nicht der Mut, sondern die Furchtlosigkeit...ruhende, offen blickende, alles ertragende. Zwinge dich zu nichts..., und wenn du dich nicht zwingst, umlaufe nicht immerfort lüstern die Möglichkeiten des Zwangs," erörtert Kafka über die Konstellation im "Schloss". Vielleicht macht es das Bild des Kleeschen Helden am deutlichsten: "Dieser Mensch...im Gegensatz zu göttlichen Wesen mit nur einem Flügel geboren, macht unentwegte Flugversuche. Dabei bricht er Arm und Bein, hält aber trotzdem unter dem Banner seiner Idee aus". Ist der Landvermesser K. Vielleicht sogar so ein Held?
Franz Kafka
Das Schloss
Roman
Nachw. von Michael Müller
2023, Broschur, 368 Seiten
ISBN: 978-3-15-020729-1
Reclam Verlag
10,00 €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2023-12-15)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.