"Gesang zwischen den Stühlen" wurde erstmals 1932 veröffentlicht und ist der letzte Band, zugleich konzeptionell und stilistisch auch der rundeste und ausgereifteste, aus einer Reihe von vier Gedichtbänden, die in der Weimarer Republik zwischen 1928 und 1932, um der klugen Voraussicht Kästners gerecht zu werden, sollte man vielleicht doch treffender sagen, die vor Beginn der Nazidiktatur erschienen sind.
Kästner selbst fasste die zur damaligen Zeit entstandenen Gedichte in einem späteren Vorwort zu "Herz auf Taille", dem ersten der vier Bände, 1965 als "Zeitgedichte gegen Zeitgeschichte" zusammen. Weiterhin definierte er seine damaligen Gedichte in diesem Vorwort als: Anklage, Elegie, Satire, Feuilleton, Glosse, Ulk, Frivolität, Epistel, Pamphlet; und dem kann man nur zustimmen.
Diese Einordnung macht zugleich deutlich, dass Kästner sich mit offenen Worten an den Leser wendet. Seine Gedichte müssen nicht erst entschlüsselt werden, sie erzählen alle kleine Geschichten, welche zeitlich direkt in die damalige Zeit einzuordnen sind. Und doch sind sie oftmals so clever verfasst, dass sie bis heute ihre Gültigkeit als Spiegel der Gesellschaft nicht verloren haben oder wie nie zuvor in den vergangenen Jahrzehnten wieder an Gültigkeit gewinnen.
Ob es nun um die Moral der Wirtschaft geht:
"Unerhörte Geldbeträge
braucht man für die Arbeitskräfte!
Lohn ist nichts als Armenpflege
und verdirbt bloß die Geschäfte."
(aus: Aktuelle Albumverse)
Oder um die Wirtschaftskrise, hier ein Beispiel aus dem Bereich Jugendarbeitslosigkeit:
"Schon sind wir eine Million!
Wir waren fleißig und gelehrig.
Und ihr? Ihr schickt uns, minderjährig,
fürs ganze Leben in Pension.
[...]
Sind wir denn da, um nichts zu tun?
Wir, die geborenen Arbeitslosen,
verlangen Arbeit statt Almosen
und fragen euch: Und was wird nun?"
(aus: Das Riesenspielzeug)
Ob es nun um die Ellenbogengesellschaft im Allgemeinen geht:
"Nachts sind die Straßen so leer.
Die Menschen legten sich nieder.
Nun schlafen sie, treu und bieder.
Und morgen fallen sie wieder
übereinander her."
(aus: Rezitation bei Regenwetter)
Oder auch immer wieder um exemplarische Einzelfälle, die in einer solchen Gesellschaft leben:
"Als er keinen Mut mehr hatte,
stopfte er zerpflückte Watte
in die Tür- und Fensterspalten,
um das Zimmer dicht zu halten.
[...]
Krank und müde vom Getue
um die goldne Gunst der Welt,
setzte er sich nun zur Ruhe,
wenn auch ohne Ruhegeld."
(aus: Nekrolog für den Maler E.H.)
Wer also interessiert ist an einem historischen Rückblick, aus Sicht eines aufgeweckten Zeitzeugen, der mit offenen Augen und journalistischem Spürsinn die Abgründe seiner Gesellschaft kritisch sezierte und dabei unglaubliches Gespür für die negative Zukunft seines Landes bewies, und wer sich dennoch gerne gegenwarts- und zukunftsorientierte Gedanken aus heutiger Sicht macht, der liegt mit "Gesang zwischen den Stühlen" genau richtig.
Erich Kästner wurde am 23. Februar 1899 in Dresden geboren und studierte Germanistik, Philosophie, Geschichte und Theatergeschichte in Leipzig, Rostock und Berlin, mit anschließender Promotion. Nach dem Studium war er als Journalist, Theaterkritiker, Redakteur, Drehbuchautor und vor allem als Schriftsteller tätig. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebte er längere Zeit in Berlin. Nach den Bücherverbrennungen am 10. Mai 1933, denen auch Schriften von Erich Kästner zum Opfer fielen (u.a. auch "Gesang zwischen den Stühlen"), und mehreren Verhaftungen durch die Gestapo, erhielt er ab 1942 totales Publikationsverbot, blieb aber dennoch in Deutschland. Nach dem Krieg ging er nach München, wo er seine erfolgreiche Arbeit nun auch als Kinderbuchautor und Mitarbeiter diverser Kabarett-Ensembles fortsetzte. Am 29. Juli 1974 starb Erich Kästner in München. Er erhielt unter anderem den Georg-Büchner-Preis (1957) und das Große Bundesverdienstkreuz (1959).
[*] Diese Rezension schrieb: Alexander Czajka (2005-12-04)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.