Es scheint eine große Erschöpfung in der Welt. Immer mehr einzelne Menschen leiden unter Depressionen oder sind ausgebrannt, aber auch unsere Institutionen, die ehemals vielen Menschen Orientierung boten, Vorbild waren und Möglichkeiten des Engagements boten, befinden sich in einem Zustand struktureller und inhaltlicher Erschöpfung und Ratlosigkeit. Das gilt für die Parteien genauso wie für die Gewerkschaften, aber auch die Kirchen können nicht mehr den Impuls zur Veränderung setzen, wie sie das vielleicht noch im letzten Drittel des vergangenen Jahrhunderts taten.
Viele Menschen haben das Gefühl, nicht mehr selbst und frei zu leben, sondern sozusagen gelebt zu werden, fremdbestimmt von Zwängen auf ihrer Arbeit, mehr aber noch von Erwartungen anderer Menschen, ihrer Eltern, ihres Partners, ihrer Kinder oder ihrer Freunde. Man lebt so vor sich hin, immer mehr müssen regelrecht kämpfen, dass sie sich wenigstens nicht selbst verloren gehen.
Seit das vorliegende Buch, das hier in einer aktualisierten und erweiterten Neuausgabe vorliegt, 2013 zum ersten Mal erschienen ist, hat sich dieser Befund durch weltpolitische und innenpolitische Veränderungen noch weiter zugespitzt
Mit der Freiheit des Evangeliums, mit protestantischer Freiheit zumal, hat diese resignative Erschöpfung nichts zu tun, sagt Margot Käßmann in ihrem Buch. Sie denkt nach darin über die Freiheit des Glaubens, der sie in die Lage versetzt, über ihre Gewohnheiten hinauszudenken, kritische Fragen zu stellen und nicht mehr alles resignativ-erschöpft als gegeben hinzunehmen. Der Blick in die Bibel zeige ihr, so schreibt sie, dass sie eine Verantwortung habe, das sie selbst und niemand anders gemeint sei von Gott und seinen Verheißungen, dass sie nicht für sich selbst und den Augenblick lebt.
Einen Buchtitel von Dorothee Sölle und Fulbert Steffensky aus dem Jahr 1983 („Nicht nur Ja und Amen. Christen im Widerstand“) aufgreifend, führt sie in zehn Kapiteln in einer sehr verständlichen und einladenden Sprache aus, dass menschliche Existenz, die sich von der Botschaft und der Freiheit der Bibel her versteht, „mehr als ja und amen“ ist und dass es sehr wohl möglich ist, gegen alle Resignation und Perspektivlosigkeit, die Welt zu verbessern.
Ähnlich wie das Jörg Zink in seinem Buch „Das offene Gastmahl“ gezeigt hat, geht es darum, sich selbst als einen Teil einer Gemeinschaft zu sehen, einer Gemeinschaft, zu der jeder Zugang hat, in der die Starken selbstverständlich für die Schwächeren eintreten und diese sich nicht mehr dafür schämen müssen. Immer noch, seit den Ideen desK onzliaren Prozesses vor vierzig Jahren, geht es um die drängenden Fragen von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung und um ein verantwortliches und nachhaltiges Leben, das zukünftigen Generationen ihre Lebensmöglichkeiten lässt.
Jeder, das ist die Botschaft Käßmanns, die sie immer wieder betont, jeder kann dazu etwas beitragen. Jeder kann lernen und üben, nicht mehr immer Ja und Amen zu sagen. Jeder kann das lernen, „selbst denken“, wie das der Sozialphilosoph Harald Welzer vor einigen Jahren in einem gleichnamigen Buch überzeugend gezeigt hat.
Und weil das nicht so leicht ist, gibt sie am Ende des Buches „Zehn Ermutigungen für Weltverbesserer“, die wegen ihrer an der Bibel orientierten und umfassenden Überzeugungskraft hier notiert seien:
1. Dein Lebenssinn ist dir in Gottes Zuwendung schon zugesagt! Wage, selbst zu denken, Vorgefundenes zu hinterfragen, und bilde dir selbst deine Meinung, unabhängig vom Urteil anderer. Du bist freier als du denkst, und kannst Haltung zeigen. Schärfe dein Gewissen an der Bibel, und gehe deinen Lebensweg voller Gottvertrauen und gleichzeitig in Verantwortung vor Gott, anderen Menschen und dir selbst.
2. Du kannst aus der Spirale der Dauererschöpfung ausbrechen und der Last der Erwartungen entkommen. Halte an, entschleunige, und überlege neu, was du mit deinem Leben anfangen willst. Das ist gut für dich und für die, mit denen du lebst.
3. Es gibt einen Segenskreislauf der Barmherzigkeit. Er zeigt sich in gegenseitiger Wertschätzung, im Leben in Gemeinschaft und einer Kultur des Vertrauens. Der Bauplan der Welt leitet sich ab aus biblischen Hoffnungen auf ein Miteinander von Starken und Schwachen.
4. Gerechtigkeit eignet sich als Leitbild für die Welt, in der wir leben. Sie ist eine Frage der Beziehung zu Gott und zu anderen Menschen. Wir können diese Beziehungen so gestalten, dass wir einander in unserer Gemeinschaft gerecht werden. Mit Blick für das Maß, einer Ethik der Grenze, des Genug, kann es ein gutes Leben für alle geben.
5. Zum Frieden gehört der Mut, Konflikte gewaltfrei zu lösen – im persönlichen Umfeld wie in internationalen Konflikten. Waffen sind keine Lösung, sondern das Problem. In den Seligpreisungen entwirft Jesus eine Kontrastgesellschaft, die für uns Provokation und Leitfaden sein kann, auch im politischen Handeln.
6. Wenn wir uns als Teil der Schöpfung verstehen, ist das einerseits eine Frage der Spiritualität. Gleichzeitig hat ein solches Selbst- und Weltverständnis im Alltag konkrete Konsequenzen, angefangen bei einer „Politik mit dem Einkaufskorb.“ Wir treffen täglich Entscheidungen, die weitreichende Auswirkungen haben.
7. Kinder sind eine Lebenslust, das dürfen Eltern erleben, das kann eine Gesellschaft prägen. Kinder sind ein Segen, das sollen sie spüren und sich entfalten können. Da gilt es, gegen die Muster in den Köpfen anzutreten und flexible Freiräume zu schaffen, in denen Familie gestaltet werden kann.
8. Sterbende sind kein Tabu und der Tod ist kein hoffnungsloser Fall – wagen wir, darüber zu reden! Wie will ich sterben? Wie können Sterbende in Würde begleitet werden? Das sind die Themen, denen wir nicht ausweichen dürfen.
9. Liebe und Beziehungen sind nicht statisch. Wer sich darauf einlässt, macht sich verletzbar. Aber es lohnt sich, in sie zu investieren, damit wir das Gewebe stärken, das unsere Gesellschaft zusammenhält. Da geht es um Familie, Ehe und Partnerschaft, aber auch um Vertrauen und Freundschaft.
10. Es gibt kein „Die“ und „Wir“, sondern nur „Uns“ in unserem Land, in unserer Welt. Hier können wir in einer Vielfalt von Kulturen und Religionen zusammenleben, wenn wir gemeinsam das Recht achten und die errungene Freiheit offensiv verteidigen.
„Ihr seid das Licht der Welt“, sagt Jesus zu seinen Jüngern und mutet ihnen zu, das der Welt auch zu zeigen, „damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“. Um diesen Zusammenhang geht es Margot Käßmann, nicht um bloßes Gutmenschentum, sondern um eine an der biblischen Botschaft orientierte Lebenspraxis, die sich im Alltag und in den kleinen Dingen und Begegnungen zeigt und dann, wie ein Stein, der ins Wasser fällt, weite Kreise zieht.
Margot Käßmann, Mehr als ja und amen. Glaube gehört mitten ins Leben, Adeo 2013, ISBN 978-3-942208-77-2
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2017-03-07)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.