Ricarda Junge, mehrfach bereits ausgezeichnete Autorin, wendet sich in ihrem neuen Roman der Welt der alten Strukturen der ehemaligen DDR in der Gegenwart zu. Das gewohnte Leben, das damals gewohnte Leben in Seilschaften und der allseitigen Beobachtung bis ins private Leben hinein schildert sie im Blick auf einen räumlich eng begrenzten Lebensraum, in einem konkreten Haus in Berlin.
Dieses Haus bildet den äußeren Rahmen für die innere Geschichte und innere Entwicklung ihrer Hauptperson Lena. In klaren, prägnanten Sätzen erzählt sie mit Verve von Hoffnungen, alten Krusten, unverhofften Abschieden und notwendigem Neubeginn.
Lena und Leander, die glückliche, junge Familie, ziehen mit Ihrem Sohn nach Berlin und beziehen eine Wohnung in einem geschichtsträchtigem Haus. Zu DDR Zeiten waren die Wohnungen des Hauses reserviert für verdiente und überzeugte Genossen teils oberer Ränge in Partei und Staatsapparat. Menschen, die immer noch dort wohnen und ihren Teil der alten DDR Vergangenheit durchaus in ihren Verbindungen und ihrer Lebensweise untereinander aufrecht erhalten. So, wie Frau König, die im obersten Stock lebt, und nur dann von den neuen Mietern gesehen wird, wenn sie gesehen werden will. Oder Herr Kantental mit dem freundlichen Gesicht, aber dem kalten Blick. Oder wie in den vielen Haubüchern, in denen immer noch akribisch niedergeschrieben wird, wer im Haus wohnt, wer Gast war, wer einige Tage blieb (zu DDR Zeiten waren solche Hausbücher Pflicht).
Zunächst eine Reihe von Gründen für Lena und Leander, sich über die antiquierten Lebensweisen der Bewohner samt all ihrer Marotten zu mokieren, doch dies ändert sich, als Leander Lena verlässt und auszieht. Plötzlich sind Fester offen, von denen Lena überzeugt war, sie geschlossen zu haben. Die Türkette ist nicht vorgelegt, obwohl Lene dies ansonsten sehr gründlich beachtet, eines Tages findet sie sich von außen eingesperrt in der eigenen Wohnung wieder und eines Nachts erkennt sie einen Schemen in der Wohnung. Und nein, ihre Nerven spielen ihr keinen Streich, denn ihr Sohn Adrian kann den Schemen im Lauf der Tage noch klarer erkennen, als sie es vermag. Eine Frau ist es, „die komische Frau“, die Adrian nur schweigend in der eigenen Wohnung begegnet. Geht dem Jungen die Phantasie durch?
Oder hat dieses Haus ein Geheimnis, das in der Vergangenheit liegt? Anja, eine andere Mieterin des Hauses, beginnt, zu erzählen und langsam fügt sich das Puzzle der Vermischung von Vergangenheit und Gegenwart zusammen.
In klarer und nachvollziehbarer Sprache vermag es Ricarda Junge, die Personen, Verbindungen, auch Geheimnisse im Haus zu beschreiben, dabei ist sie immer für eine Überraschung gut, lange Zeit bleibt im Dunkeln, was wirklich passiert ist und passiert..
Eine Vergangenheit wird lebendig und fühlbar, die innere Opfer gekostet hat, Opfer, die wie Geister in den Wohnungen, dem Treppenhaus, den Bewohnern des Hauses präsent sind, Opfer, die noch lange nicht jeder einsehen würde und die noch weniger bereut werden.
Ebenfalls gelingt es ihr, die innere Entwicklung Lenas wunderbar in den Raum zu setzen, nicht nur in Bezug auf den vermeintlichen (oder doch realen?) Geist der „komischen Frau“, sondern auch in der eigenen Ausrichtung auf das neue Leben, getrennt von Leander, eigene Konventionen prüfend und manches Mal, wie in Bezug auf den jungen Rüdiger, letztlich über Bord werfend.
„Die komische Frau“ ist eine hervorragend klar und mitnehmend erzählte Geschichte, die aufzeigt, wie die eigene Vergangenheit, die festen Prägungen des Lebens immer wieder die Gegenwart bestimmen und dies nicht immer zum Guten tun.
Das Befremdliche des Lebens, die befremdliche Atmosphäre in diesem antagonistischen Wohngefüge ist sehr gut getroffen, eine Atmosphäre, die dem ganzen Buch eine bedrohliche Note mit auf den Weg gibt und erstaunt davor stehen lässt, mit welcher Selbstverständlichkeit versucht wird, in das Leben anderer einzugreifen und sie auch im persönlichsten Bereich einer Beobachtung zu unterziehen.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2010-07-16)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.