Ihr Roman „Die unwahrscheinliche Reise des Harold Fry“ war eine literarische Offenbarung. Niemals hätte ich es damals für möglich gehalten, dass die Engländerin Rachel Joyce nach einem weiteren Roman („Das Jahr, das zwei Sekunden brauchte“), eine Art Fortsetzung folgen lassen würde, die man auch als eine Ergänzung bzw. Vervollständigung bezeichnen könnte.
Zwanzig Jahre ist es nun her, dass Queenie Hennessy den Ort Knightsbridge und damit ihre große Liebe Harold Fry verlassen hat, nachdem dessen Sohn David ums Leben kam und Harolds Ehe auseinanderbrach.
Nun liegt sie todkrank in einem katholischen Hospiz. Das Leben und der Alltag all dieser todgeweihten Menschen, die aufopfernden Pflege der Schwestern, der permanente Umgang mit den nahen Tod (es sterben nicht wenige der zu Beginn vorgestellten Patienten während des Zeitraums, den das Buch umfasst) ist der eine Strang des berührenden Buches. Der andere ist das Warten von Queenie auf Harold Fry, dem sie einen ersten Brief geschrieben hat, in dem sie ihm mitteilt, dass sie bald sterben wird und ihm für die erfahrene Freundschaft vor 20 Jahren dankt. Wie wir wissen, macht sich Harold danach auf einen fast 1000 Kilometer langen Fußweg von Süd-nach Nordengland.
Und während die durch mehrfache Operationen im Gesicht schwer gezeichnete Queenie, die sich nur noch schriftlich und durch Zeichen mit anderen verständigen kann, auf ihn wartet, folgt sie dem Rat einer wunderbaren Pflegerin, und schreibt ihre Geschichte auf. Ihr bisher streng gehütetes Geheimnis, das mit ihrer Beziehung zu Harolds Sohn David zu tun hat.
Eine bewegende Geschichte einer tapferen Frau wird da entwickelt, und nebenbei werden sie auf das Sympathischste geschilderten Bewohner des Hospizes immer mehr in den Bann gezogen von Harold und seinem Pilgerweg. Wird er es schaffen? Sie pinnen die immer zahlreicher werdenden Nachrichten der Medien auf eine Wandzeitung, während Queenie sich durch ihre Geschichte schreibt, immer wieder ermutigt und unterstützt von Schwester Mary Inconnue, die Queenies Gekritzel ins Reine schreibt. Ihr geht es immer schlechter und man fragt sich, ob die tapfere Frau ihr Werk wird beenden können? Und wie wird das Wiedersehen mit Harold Fry ausgehen, wenn es je soweit kommen wird?
Rachel Joyce schreibt mit einer bezaubernden Poesie von grundlegenden Fragen des Lebens und des Todes, von der Liebe, von Schuld und Vergebung, von Kampf und Ergebung, von Versagen und Erlösung, von Abschied und ersehntem Wiedersehen.
Die außergewöhnliche Frau, für die Harold Fry im ersten Roman 1000 Kilometer gelaufen ist, wird lebendig, ihre Geschichte bekommt Gestalt und ihre unerwiderte Liebe einen Sinn, der über den Tod hinausreicht.
Rachel Joyce, Der nie abgeschickte Liebesbrief an Harold Fry, Krüger 2014, ISBN 978-3-8105-2198-9
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2015-01-13)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.