Es gab einmal diesen dummen Spruch „Wer mit 20 kein Kommunist war, hat kein Herz und wer es mit 40 immer noch ist, kein Hirn“. Auf diese außergewöhnliche Graphic Novel umgelegt müsste es heißen: „Wer mit 40 kein Herz mehr hat ist eh schon tot.“ Aber ganz anders: Raphael, der Protagonist dieser außergewöhnlichen Erzählung aus dem Reich der Liebe. Raphael lebt zwar glücklich mit seiner Freundin Sophia in Paris, doch als ihn auf seiner 40. Geburtstagsparty eine Videokassette per Post erreicht, ist es mit dieser Idylle (vorerst) vorbei. Marie, seine Jugendliebe hat ihm diese Kassette geschickt, auf der ihrer beider Versprechen dokumentiert ist, nämlich, sich an ihrem 40. Geburtstag, also 20 Jahre danach, in Rom zu treffen. Raphael legt zu allem Überfluss die Kassette noch am Partyabend in den VHS-Spieler ein und so weiß es nicht nur Sophie, sondern auch sein versammelter Freundeskreis, dass es einst eine gewisse Marie gab. Nicht nur die zeichnerische Umsetzung ist grandios, wenn etwa Raphael plötzlich auf der einen Seite alleine in seinem Wohnzimmer steht, das die Seite davor noch voller Partylärm und Chaos war. Denn in Gedanken ist Raphael längst woanders, alleine, in seiner und Marie‘s Vergangenheit und bald denkt er an nichts anderes mehr. Liebe in Zeiten der Postmoderne
Dass Raphael am nächsten Tag tatsächlich von Paris nach Rom fliegt, um Marie zu finden, zeigt die Macht der Vergangenheit, es bedeutet aber auch die ewige Sehnsucht nach der Jugend, die mit 40 immer noch gestillt werden will. Denn die Reise zu Marie ist vor allem auch eine Reise zu sich selbst, um zu sehen, wie er sich verändert hat, was er erreicht hat, wovon er einst geträumt hat und wieviel davon Wirklichkeit geworden ist. Obwohl die sehr lasziv wirkende Marie auf den beiden Covers dieser herausragenden Comicgeschichte abgebildet ist, ist es eigentlich eine Graphic Novel über Raphael, der es nie ganz verwunden hat, dass Marie ihn betrogen und ausgenützt hatte und vielleicht ist er auch deswegen zwanzig Jahre später immer noch so abhängig von ihr. Die Geschichte erinnert auch etwas an Odysseus und Penelope, die ja auch zwanzig Jahre getrennt waren, nur dass in Raphael und Marie’s Fall eindeutig Marie Odysseus ist. Schließlich haben sich die Geschlechterverhältnisse in den letzten 2700 Jahren ja auch so ziemlich umgedreht, um nicht zu sagen: auf den Kopf gestellt. Denn diese Marie will die Männer leiden lassen, obwohl sie selbst dabei am meisten leidet, aber das muss sie selbst erst auf sehr schmerzvolle Art erfahren. Illusion und Wirklichkeit
Jim’s Graphic Novel „Eine Nacht in Rom“ ist so authentisch und aus dem Leben gegriffen, dass es genauso gut ein Roman sein könnte, wenn es nicht ein wunderschönes Comic wäre! Der Autor und Zeichner ist nicht nur belesen und intelligent, sondern auch sehr begabt, wie man am Ende der beiden Bände im Dokumentarteil über seine Arbeit auch selbst nachlesen kann. Trotz aller Intellektualität baut Jim aber auch sehr viele witzige Momente in seine Geschichte ein, etwa wenn Raphael Marie´s Zettel mit ihrer Telefonnummer erst zerreißt und dann wieder aus dem Staubsauger rausklaubt. Aber Jim spielt auch mit den Illusionen und Vorstellungen des Genres, etwa an der Stelle, wo er seinen Protagonisten folgendes sagen lässt: „Wenn man mir von drei Mädchen erzählt sehe ich sogleich das Bild von drei solchen Erscheinungen vor mir“, zeichnet sie und belehrt den Leser auf der darauffolgenden Seite gleich mit der Realität. Aber auch die Geschichte hat es einfach in sich, weil Raphael durch und durch authentisch reagiert, weil unvernünftig: aber genau das ist es doch, was die Liebe aus einem macht und wer es noch nie erlebt hat, der wird diese wunderschöne Erzählung nicht verstehen können.
Für Fans des Zeichners sei auch erwähnt, dass er immer wieder einige seiner Figuren auch in anderen Werken auftauchen lässt, so etwa den (schwulen) Hubert, der in „Sonnenfinsternis“ (von Fane & Jim, ebenfalls bei Splitter) eine sehr wichtige Rolle spielt. Etwas seltsam sind einzig die Fehler im Italienischen, die zwar übersetzt werden, im Italienischen aber fehlerhaft sind. Aber vielleicht liegt das an der französischen Originalausgabe, die 2012 bei Bamboo Édition erschienen ist. Eine Geschichte voller kurioser Wendungen und liebevoller Einfälle und Details, die man einfach gelesen haben muss.
Jim (alias Tèhy)
Eine Nacht in Rom - Band 1 und 2
Graphic Novel
Splitter Verlag, 120 Seiten, 19,80 €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-08-27)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.