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Hans Henny Jahnn - Fluss ohne Ufer
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Jahnn, Hans Henny:
Fluss ohne Ufer

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(Bücher frei Haus)

2009 jährte sich Jahnns Todestag (29. November) zum 50. Mal. Das ist für mich ein Anlass, mir über sein Hauptwerk und dessen Struktur einige Gedanken zu machen. Dabei imaginiere ich einen Leser, der die Trilogie schon kennt und mitreden kann und dem ich gleichzeitig alles Grundlegende erst erklären darf. Einen solchen Leser gibt es natürlich nicht, doch dieser Ansatz scheint mir gut zu dem außerordentlich facettenreichen und in sich widersprüchlichen Werk zu passen.

„Fluss ohne Ufer“ ist nach Botho Strauß „eines der mächtigsten Prosawerke deutscher Sprache.“ Und es ist eine gigantische Ruine. Jahnn hat die Kulturen des Alten Orients geliebt und studiert, Ägypten, Mesopotamien. Seine Trilogie hat Ähnlichkeit mit einer Stufenpyramide, die halb erhalten dem Wüstensand entrissen wurde. Um den Titel eines Romans von Rosendorfer zu zitieren: Als Epiker war Jahnn ein „Ruinenbaumeister“. Auch sein erstes großes Epos „Perrudja“ blieb, zu zwei Dritteln fertig, liegen. In diesem Fragmentarischen spiegeln sich vor allem die instabilen Zeitumstände wider. Jahnn hat unter folgenden Bedingungen geschrieben: Exil während des 1. Weltkriegs in Norwegen, Weimarer Republik, Exil auf Bornholm, Nachkriegsnot und Wirtschaftswunderzeit. Er hat permanent für seine Kräfte zu viel angestrebt und doch sehr viel mehr erreicht als die große Masse seiner Autorenkollegen.

Im ersten Teil „Das Holzschiff“ bleibt einer als blinder Passagier an Bord eines Schiffes, das geheime, wahrscheinlich tödliche Fracht geladen hat. Die Tochter des Kapitäns ist seine Verlobte. Während der Fahrt verschwindet die junge Frau. Es kommt zur Meuterei an Bord, in deren Folge das Schiff untergeht. Das ist durchgehend in einem merkwürdig unwirschen Ton erzählt, der etwas Erhaben-Abweisendes hat. Es liest sich, wie Musik von Hindemith manchmal klingt. Es ist ohne ein Gran Humor oder Ironie, ohne Konzession an Eingängigkeit, nur hoher, schroffer Ton. So läse sich ein Abenteuerroman, verfasst von Stefan George.

Zweiter und Hauptteil: „Die Niederschrift des Gustav Anias Horn“ – das ist der blinde Passagier, der wie die Mehrzahl der Besatzung gerettet wurde. Horn schreibt als Ich-Erzähler, und zwar in einem nun vollkommen anderen Stil. Es ist anspruchsvolle und zugleich elegant-flüssige Prosa, zeitlos modern (falls es das gibt), zum tage- und wochenlangen Lesevergnügen verführend. Der Matrose Tutein gesteht Horn, dessen Verlobte an Bord ermordet zu haben. Horn und Tutein schließen auf der Basis dieses Verbrechens einen Bund, den sie über Jahrzehnte aufrechterhalten, auf drei Kontinenten, immer fern der Heimat. Sie leben von der Schiffskasse, die ihnen zugefallen ist.

Zunächst halten sie sich in Südamerika auf, bereisen dann ausgiebig mit vielen Zwischenstopps die afrikanische Küste und die Kanaren. Es ist die Phase, in der ihr Bund seine ersten Bewährungsproben bei verschiedenen fellinesken Abenteuern besteht. Jahnn hat diese Weltgegenden nie gesehen. Er schreibt aus der Perspektive eines nach Exotik dürstenden halbwüchsigen Viellesers des frühen 20. Jahrhunderts. Das Ambiente ist also farbig und künstlich und man hört oft Papier rascheln.

Horn und Tutein lassen sich für lange Jahre an einem norwegischen Fjord nieder. Hier verwendet Jahnn viele Aufzeichnungen, die er selbst als Flüchtling dort niedergeschrieben hat. Wir lernen eine Bevölkerung kennen, die seltsam gespalten zwischen Archaikum und Moderne haust und die absonderlichsten Gestalten hervorbringt. Die beiden Gefährten gehen im Kontakt mit dieser Welt jeweils eigenen Interessen nach und entfremden sich zeitweise einander. Beide bleiben jedoch gesellschaftliche Außenseiter. Horn beginnt zu komponieren. Tutein zeichnet. An einem kritischen Wendepunkt siedeln sie überstürzt in eine schwedische Kleinstadt über. Hier kommt es vorübergehend zur größtmöglichen Annäherung an eine normale bürgerliche Existenz. Tutein wird Pferdehändler, Horn verlobt sich und zeugt einen Knaben, ohne je mit Bestimmtheit davon zu erfahren; wir wissen es aus dem Epilog. Die neuen privaten Bindungen sind nicht von Dauer, sie gehen in einem Sturm von Affekten unter. Horn und Tutein nehmen eine wechselseitige Bluttransfusion vor und ziehen weiter.

Eine fiktive Ostseeinsel, Bornholm nachgebildet, ist ihre letzte Station. Ihre Beziehung ist nun unauflöslich geworden. Horn und Tutein blicken zurück in die Zeit vor jener Schiffsreise ohne Wiederkehr. Jahnn verwendet hier seine eigenen Erinnerungen an Hamburg und Mecklenburg um 1900. Horn wird als Komponist berühmt. Tutein kränkelt und stirbt. Horn macht aus dem Leichnam eine ägyptische Mumie und verwahrt sie in einer hermetisch verschlossenen Truhe. Und dann erscheint Ajax von Uchri, ein junger Mann aus der Heimat, Vollender von Horns Schicksal. Ab hier erreicht Jahnn die Meisterschaft seines eigenen Stils. Er wird schreibend bei Lebzeiten klassisch. Die Handlung schreitet in genau abgezirkelten Schritten voran, mit erbarmungsloser Konsequenz Horns schließlichem Untergang entgegen. Das ist perfekt geschrieben, vollkommen gelungen, wie eine barocke Fuge. Und es weht einen kalt an, wie alles allzu Große. Horn beschreibt diesen Katarakt von Katastrophen parallel zum Geschehen und immer atemloser, dabei stilistisch absolut sicher, bis Ajax kommt, um ihn zu töten. Genau hier bricht die Niederschrift ab, endet der zweite Teil.

Ich gestehe, dass mir die Fragmente des posthum veröffentlichten Epilogs lieber sind als der grandiose Schluss des Mittelteils, jene 450 wirklich makellosen Seiten. (Die gesamte Trilogie hat in meiner Ausgabe gut 2000 Seiten.) Jahnn konnte das Werk nach seiner Rückkehr nach Hamburg nicht mehr vollenden. Er war erschöpft, verbraucht, auch durch langen Drogenkonsum. Doch gelangen ihm noch viele Einzelabschnitte, in denen er das weitere Schicksal von Nebenpersonen darstellt. Es sind die Überlebenden und Nachgeborenen. Diese Szenen kommen mir menschlicher vor als der Zweikampf Horn – Ajax. Menschlich, das ist ein billiges, abgegriffenes Wort, gewiss. Wer jedoch als Leser all das vorher durchwandert hat, diese Höhen und Tiefen, die idyllischen Flecken, die Wüsteneien – der darf beim Lesen dieser letzten 400 Seiten aufatmen. Der Bürgerschreck Jahnn wird bürgerlich – und bleibt originell, ein großer Erzähler und Psychologe.

Etwas konnte ich in diesem Abriss nicht unterbringen: Jahnn als den genauesten, fesselndsten Schilderer von Natur, den wir im Deutschen im 20. Jahrhundert gehabt haben.

[*] Diese Rezension schrieb: ArnoAbendschoen (2010-06-03)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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