„Die Erinnerung trügt häufig“, schreibt Vladimir Jabotinsky und das Übrige würde er – wenn es nötig wäre – einfach hinzudichten, so fügt er es schelmisch seinem Vorwort zu seinem eigenen Roman noch hinzu. Die wahre Leidenschaft des Erzählers sei ohnehin die Linguistik, und sicherlich würde der Familienroman über die Fünf Milgroms im russischen Original noch viel mehr Vergnügen bereiten, denn er ist voll von Anspielungen und Doppeldeutigkeiten, die sich die beiden Übersetzerinnen bemüht haben ins Deutsche zu übertragen. So gibt es etwa den Spitznamen „Tjuntja“ für den älteren Bruder Serjoshas, der Nietzscheaner sei und dem Serjosha einige lyrische Zeilen widmet. Tjuntja ist so etwas wie ein Narr, Einfaltspinsel, aber das macht nichts, denn Serjosha selbst wird von demselben liebevoll Gobelka (Rotzlümmel) genannt.
Auch das Wort „Scharlatan“ kommt zu Ehren, denn es bedeutete in Odessa nicht unbedingt ausschließlich nur Betrüger, sondern war eigentlich die Bezeichnung für einen Straßengaukler, der ein Puppentheater auf dem Rücken trug. Es gibt in Odessa sogar eine Scharlatanski-Gasse, die auf diese eher verniedlichende Bezeichnung verweist. Ein wunderschönes Bild findet sich aber auch gleich am Ende des ersten Kapitels über das Melonenessen im Sommer und die verschwundene Schönheit Odessas: „in einer Melone zu ertrinken“, bedeute, sich ganz in ihre Frucht zu versenken und so in ihr zu verschwinden, dass sie einem wie eine Maske im Gesicht stehe. Freie Assoziationen inklusive.
Abgesehen von der Familie Milgrom, Melonen und Demivierges handelt der Roman aber ausschließlich und vor allem von Odessa, dessen „babylonische Buntheit das Symbol einer schönen Zukunft gewesen sei“. In Odessa hätte man damals noch das „schönste Lied der Menschheit hören können“: hundert Sprachen. Und wie viele Völker aus allen Ecken Europas zusammengekommen waren, diese schönste aller Städte zu erbauen, erzählt der Protagonist und weiß zugleich, dass man nur über den Verfall zur Restauration gelange. Alles steuert dann auf den Potjomkin-Tag hin und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Der politische Hintergrund wird zu einer Landschaft der privaten Tragödien und dennoch bleibt alles in der Schöpfung ein schier unglaubliches Wunder. Selbst die Klassifizierung von Dummköpfen in aktive oder passive…
„A Gast? Mitn Kopp in Wand“ würde eigentlich bedeuten, ihm aufzumachen, dem Gast, wenn er klingelt, sage ihm, hier sind Stühle, hier sind Tee und Brötchen und weiter nichts, möge er tun was er wolle „und wenn er mit dem Kopf durch die Wand schlägt“. Der jüdische Kosmopolit für den wohl weder Assimilation noch Zionismus eine Lösung gewesen wären, weiß in allerhand Sprachen zu parlieren und Worte herzuleiten. Selbst Wien kennt er und an einer Stelle schreibt er: „Wir trösteten unseren Stolz mit dem Verweis auf Wien, wo die Menschen ebenfalls früh schlafen gingen“. Odessa war da anders, hier war nicht nur die berühmte 189-stufige Treppe immer belebt und ein Marktplatz der Negozianten, ein Ort, wo Papirossa-rauchende Händler über Politik mehr wissen, als die Parteien und man von Händlern mehr über das Leben lernen kann, als von Lehrern.
Einen lustigen Scherz erlaubt sich der Autor auch, wenn er die Kritik seiner Kritiker aufnimmt und einige Naturbeschreibungen einfließen lässt, die „seinen Werken fehlen würden“. „Wenn man ein Leben lang schreibt, dann geniert man sich am Ende, auch nur noch ein Wort zu sagen.“ Und über politische oder private Veränderungen weiß der Protagonist zu berichten: „Still für sich. Wo ein Mensch ist, sei es auch nur einer in der Menge, der etwas Bestimmtes will, das aber ganz fest, um jeden Preis – der muss sich anstrengen. Es genügt, die ganz Zeit zu wollen. Und je mehr er schweigt, desto stärker wirkt das. Es wird kommen wie er will.“
Vladimir Jabotinsky
Die Fünf
Aus dem Russischen übersetzt von Ganna-Maria Braungardt. Die Lyrik wurde übertragen von Jekatherina Lebedewa
Die Andere Bibliothek
Gebunden, mit Lesebändchen und Banderole.
ISBN: 9783847713364
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-05-31)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.