MAURICE von 1987 ist die mittlere von Ivorys drei Romanverfilmungen nach E. M. Forster (A Room with a View 1985, Howards End 1991). Maurice blieb aus dem gleichen Grund ein wenig im Schatten der beiden anderen Produktionen, aus dem Forster selbst den Roman jahrzehntelang unter Verschluss gehalten hatte – es ist ein problematischer Stoff und nicht geeignet, nachhaltiges Interesse breiter Schichten zu erregen oder gar deren Sympathien zu gewinnen. Er erschien, dem Testament entsprechend, erst 1971, ein Jahr nach dem Tod des Autors.
Maurice Hall (James Wilby) und Clive Durham (Hugh Grant) lernen sich 1909 während ihres Studiums in Cambridge kennen. Beide vertreten die zwei bestimmenden Kräfte der englischen Oberschicht von damals. Clive ist Landadliger, kommt aus einer Familie von Anwälten und Politikern. Maurice entstammt dem gehobenen Bürgertum, sein Vater war Börsenmakler gewesen, sein Großvater ist reich. Von den beiden ist Clive der geistig regsamere, und er neigt zum Opponieren. Er wendet sich früh vom Christentum ab und der antiken Kultur zu, betrachtet sich als „Hellenen“. Maurice entspricht in fast allem dem Durchschnitt seiner Zeit und seiner Schicht. Er teilt deren Vorlieben, Gewohnheiten, Auffassungen und Vorurteile. Nur in einem weicht er von diesem Durchschnitt ab: Er ist homosexuell. Clive schätzt sich ebenso ein. Auf dieser Grundlage entsteht eine intensive Freundschaft, allerdings besteht Clive auf rein platonischer Beziehung unter Ausschluss praktizierter Sexualität. Maurice ordnet sich dem unter, wie er das in allem Übrigen tut.
Clive wird Anwalt in London und bereitet sich auf eine politische Karriere vor. Er hat auch für das etwas heruntergekommene Familiengut im Südwesten Englands zu sorgen. Maurice arbeitet als Broker in der City. Beide verbringen jetzt einen Großteil ihrer Freizeit miteinander. Ihre Familien - Mütter und Schwestern - freunden sich an.
Die harmonische Beziehung der jungen Männer endet 1912, als Clive sich von Maurice zurückzieht und im Jahr darauf heiratet. Ivory hat diesen radikalen Wandel in Clives Lebensführung mit gesellschaftlichen Rücksichten zu begründen versucht. Ein den beiden aus Cambridge bekannter Viscount wird, ähnlich wie Oscar Wilde eineinhalb Jahrzehnte davor, in einem Sensationsprozess verurteilt, und das löst bei Clive Panik aus. Hier weicht Ivory von der Romanvorlage ab. Bei Forster fehlt dieser Sittenskandal und Clives Motive bleiben letztlich im Dunkeln.
Clive findet sich rasch in seine neue Lage. Er wird bei den kommenden Wahlen kandidieren. Seine Wendigkeit, seine Intellektualität, sein blendendes Aussehen, sein guter Geschmack – alles dient ihm zum Erreichen seiner Ziele. Immer deutlicher wird, dass die reiche Kultur, die er teils ererbt, teils sich angeeignet hat, nur Dekorum ist. Sein Oppositionsgeist war eine auf die Adoleszenz beschränkte aristokratische Spielerei. Maurice dagegen, der Schwerfälligere, weniger Selbständige, gerät alleingelassen in eine tiefe Krise. Er muss erst neue Erfahrungen machen, neue Anstöße von außen bekommen und seine verborgenen Kraftquellen entdecken. Dabei kommt ihm zugute, dass er über den ausgeprägten Pragmatismus der englischen Mittelklasse verfügt.
Maurice verbringt im September 1913 eine Urlaubswoche auf dem Gut des frisch verheirateten Freundes. In diese entscheidende Zeit fallen zwei Behandlungstermine in London. Maurice will seine sexuelle Orientierung von einem Hypnotiseur korrigieren lassen. Die Hypnose führt allerdings nur zu größerer Offenheit, und Maurice lässt sich auf eine Beziehung mit Clives Wildhüter Alec Scudder (Rupert Graves) ein. Bevor das überraschende, doch nicht unrealistische Happy end erreicht wird, haben Maurice und Alec noch einige Kämpfe zu bestehen, gegeneinander und mit sich selbst …
Im Vergleich mit Forsters Roman erscheint der Film zwangsläufig flacher. In zweieinviertel Stunden lassen sich nicht alle Seelenregungen ausleuchten, nicht alle gesellschaftlichen Bezüge darstellen, die der Autor auf knapp 300 Seiten ausbreitet. Dafür setzt Ivory andere Mittel ein, um den Film überzeugend zu gestalten. Zum einen wirken Ausstattung und Atmosphäre bewundernswert authentisch. Noch die letzte Vorhangfalte ist reinster Edwardian Style und die Musik im spätromantischen Stil (Richard Robbins) ein großer Genuss. Die Gefühlsäußerungen, die zarten wie die heftigeren, beschwören jene Welt herauf, die ihr Gesicht vom Jugendstil und von Maeterlinck, beispielsweise, erhielt. Zum anderen bestechen die Leistungen der Hauptdarsteller, die ihre Rollen nuanciert, ausdrucksvoll und verwandlungsreich ausfüllen. James Wilby, Hugh Grant und Rupert Graves haben sich mit diesem Film auf die große Leinwand der Filmgeschichte gespielt. Auf ihr hat auch MAURICE seinen Platz.
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2011-02-17)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.