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Ilja Ilf - Das eingeschossige Amerika
Buchinformation
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Ilf, Ilja:
Das eingeschossige
Amerika

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(Bücher frei Haus)

"The New Gullliver – Soviet Russia’s Superior Revolutionary Film" steht in einer Leuchtschrift auf einem Kino in New York, das einer der beiden sowjetischen Autoren, Ilja Ilf, eigenhändig geschossen hat und wie viele andere die Erzählungen dieses Bandes in S/W illustriert. New York zeigte sich im Oktober 1935 von seiner besten Seite, der Broadway wäre so hell und grell erleuchtet, dass wenn man auch nur eine einzige Birne hinzugefügt hätte, das „ganze vom Übermaß des Lichts zerplatzt und zum Teufel geht. Aber diese Birne kann nirgendwo eingeschraubt werden, es ist einfach kein Raum für sie da“. Über eine ehemalige chinesische Opiumhöhle am Times Square schreiben die beiden Neuankömmlinge: „Die Exotik war verflogen, die Tristesse aber geblieben“. Die New Yorker würden nicht gehen, sondern laufen und der Müll hauptsächlich aus Zeitungen bestehen, während die Taxis die Farbe von Kanarienvögeln hätten: gelb, orange und manche weiß. „Nicht enttäuscht und nicht begeistert, eher verstört von seinen gewaltigen Dimensionen, seinem Reichtum und seiner Armut“, kehrten sie am ersten Abend in ihr Hotel zurück, „dabei war gar nichts besonderes passiert“.

Von West nach Ost und wieder zurück
Wer selbst schon einmal die USA besucht hat, wird die ersten Impressionen, die die beiden russischen Autoren schildern, sehr gut nachvollziehen können, denn ihr Blick ist tatsächlich ein sehr europäischer: „Der Vorgang des Essens war genauso hervorragend rationalisiert wie die Herstellung von Autos oder Schreibmaschinen. (...) Sie essen nicht, sondern füllen sich den Magen, so wie der Motor mit Benzin betankt wird.“ Die Amerikaner selbst werden aber als äußerst sympathische und freundliche Menschen beschrieben, was die Suche nach einem Chauffeur für die beiden natürlich erleichtert. Denn Ilf und Petrow wollen nicht nur New York sehen, sondern ganz Amerika, aber nicht das Amerika der Stereotype und Klischees, also das „mehrgeschossige“ Amerika der Wolkenkratzer, sondern das einfache Amerika der Arbeiter, Angestellten und Bauern, das „eingeschossige“ also, deswegen auch der Titel des Buches. Ihr „ideales Wesen“ finden sie in Mr. Adams, der zwar selbst nicht Auto fährt, sich aber dafür rührend um die beiden Prawda-Journalisten kümmert und seine Frau die drei Männer durch die USA kutschieren lässt.
Neger mit weißer Haut
Der Grundtenor dieser fast dreimonatigen Reise durch die Vereinigten Staaten Mitte der Dreißiger Jahre ist derartig köstlich und amüsant, dass man immer mehr lesen möchte von den Eindrücken der beiden lustigsten Autoren, die die an Fantasmus und Fiction ohnehin sehr reiche sowjetische Literatur hervorgebracht hat. Dementsprechend gestaltet sich auch der Aufbruch nach Westen im Automobil, der eigentlich „einer Schiffsreise über den Ozean“ glich. Die „konsequente Einförmigkeit“ zeige auch die „kolossalen Dimensionen“ dieses Landes, das auf dem Highway mehr Menschen verloren habe als im Ersten Weltkrieg. Aber die technische „foolproof“ Überlegenheit und die Kaiser von General Electric, die wahren Herrscher des Landes, begeisterten natürlich auch die beiden Sowjetbürger, die schon damals messerscharf den US-Kapitalismus analysierten: der ganze Komfort der US-Bürger beruhe eigentlich auf Ratenzahlung und „Eigentum sei für die Mehrheit des Volkes eine Fiktion“. „Der Mensch braucht nur die Arbeit zu verlieren, und schon beginnt er zu begreifen, dass er kein Eigentümer, sondern ein ganz gewöhnlicher Sklave ist wie der Neger, nur mit weißer Haut.“ Als weitere Personen treffen sie auch Hemingway, Upton Sinclair, John Dos Passos, Lincoln Steffens, Henry Ford et. al.
Messerscharfe Analysen mit viel Humor
Auch diese Frage wird nämlich in Ilf/Petrows Reise durch die USA angesprochen und die Apartheit besonders im Süden des Landes kritisch registriert. Das Erfolgsrezept der in den USA verbreiteten Werbung reduzieren die beiden auf Wiederholung: „Damit er (der US-Bürger, JW) Ihren Worten glaubt, müssen Sie sie so oft wie möglich wiederholen. Darauf baut bisher ein bedeutender Teil der amerikanischen Werbung auf – die kommerzielle, die politische und alle möglichen anderen“. Und der Amerikaner sei eben daran gewöhnt, dieser Werbung Glauben zu schenken. Die „Diktatur der Maschinen“ (im Gegensatz zur Diktatur des Proletariats) würde die Arbeiter in Gefangenschaft halten, der Triumph der Technik ganz im Gegensatz zum (geistigen) Elend der Menschen stehen. Beim Besuch bei Henry Ford, der die Arbeiter am Gewinn beteiligte, beobachten sie die Ähnlichkeit Fords mit einem „spitznasigen russischen Bauern“: „talentiert und erfinderisch“. In Chicago fluchen sie auf die rackets, in Oklahoma auf die bis in die Stadt reichenden Ölbohrtürme und in Hannibal huldigen sie Mark Twain. Witzig sind auch immer wieder die Tramper, die aus Gründen der literarischen Dramaturgie die langen Autofahrten durch das riesige Land unterhaltsam begleiten. „Das eingeschossige Amerika“ ist nicht nur literarisch ein Hochgenuss, da die Komposition und Dramaturgie des Romans wirklich von Meistern ihres Fachs stammen, sondern auch vom unterhalterischen Aspekt her. Und wer selbst schon so eine Reise gemacht hat oder machen will, der wird sich noch mehr über dieses völlig unideologische Meisterwerk freuen. Da die limitierte Ausgabe (in zwei Bänden in dekoratives, farbiges Metallpapier gebunden, Fadenheftung und Lesebändchen, einzeln in Schlaufen, zusammen in einem mit Fotocollagen bedruckter Schuber) bereits vergriffen ist, legt die Andere Bibliothek nun eine Taschenbuchausgabe vor, die mit unszensurierten Briefen von Ilf und Petrow an ihre Familien zuhause ergänzt werden. „Wäre Amerika sowjetisch, dann wäre es das Paradies.“

Ilf, Ilja / Petrow, Jewgeni
Das eingeschossige Amerika. Eine Reise mit Fotos von Ilja Ilf. Mit einem Vorwort von Alexandra Ilf und Felicitas Hoppe. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger, 693 Seiten, Die Andere Bibliothek, ISBN: 9783821862392

[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-08-07)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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