„Auch ich bemühe mich um Liebe“, sagt der selbsternannte „Janitscharenenkel“ Ostap Bender zu seinem Opfer, dem Sowjet-Millionär Korejko, „Ich möchte, dass Sie, Herr Korejko, mich liebgewinnen und mir zum Zeichen Ihrer Zuneigung eine Million Rubel übergeben“. Der „Große Kombinator“, wie Bender von seinen Schnorrerkollegen auch genannt wird, macht sich mit der „Antilope Gnu“, einem abgehalfterten Automobil, auf eine Odyssee, um den letzten Millionär im neuen Sowjetreich aufzuspüren. Als der Roman geschrieben wurde, in den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts, war Stalin zwar schon an der Macht, aber dennoch konnten die witzigen Passagen des „Goldenen Kalbes“ vorerst in einer Zeitschrift (1931) und dann auch als Buch (1933) - obwohl Übersetzungen ins Deutsch, Englische, Französische bereits erschienen waren – auch in der Sowjet erscheinen. Dass der Roman, der das neue System auf die Schippe nimmt und auch schon von den Säuberungen spricht, die Zensur umgehen konnte, liegt wohl an der außerordentlichen Form des Humors, der die Geschichten um Ostap Bender, eine Art Eugen Onegin, ein Till Eulenspiegel oder zumindest Schelm, den Zensoren als völlig harmlos erschienen ließ, als „Träume eines Idioten“, wie Bender es selbst sieht. Dabei finden sich darin auch Passagen wie: „In Sowjetrussland ist das Irrenhaus der einzige Platz, wo ein normaler Mensch leben kann. Alles Übrige ist Chaos. Nein, mit den Bolschewiken kann ich nicht leben. Dann schon lieber hier mit den gewöhnlichen Irren. Die bauen wenigstens keinen Sozialismus auf. Außerdem wird man hier verpflegt. In dem Chaos draußen muss man arbeiten. Ich will aber nicht für denen ihren Sozialismus arbeiten. Hier habe ich endlich persönliche Freiheit. Freiheit des Gewissens. Freiheit des Wortes.“
Sowjetische Odyssee vierer Kumpane
Am Anfang des Romans gibt sich Ostap Bender, der ebenso von der Revolution überrascht wurde, wie seine Kumpane, als Sohn des Helden der Revolution, Leutnant Schmidt, aus, um vom Parteichef des Provinzstädtchens Arbatow Geld zu kassieren. Tatsächlich bekommt er ein paar Rubel, doch sogleich melden sich noch zwei andere Söhne des Helden Schmidt und bald bemerkt auch der (dumme) Parteichef, dass er Gaunern aufgesessen ist. Diese bilden bald eine „Konvention“ und teilen sich die Provinzen des neuen Reiches untereinander auf, so soll vermieden werden, dass sich so etwas wie im geschilderten Fall nochmal wiederholt, denn man will sich „bei der Arbeit“ ja nicht in die Quere kommen. „Alle Republiken lagen in einer Ohrenklappenmütze aus Hasenfellen und warteten auf ihren Besitzer“, heißt es ironisch, doch dann hat Ostap Bender, der „Große Kombinator“, eine noch viel bessere Idee: Er will nach Rio de Janeiro, denn er hat keine Lust denen ihren Sozialismus aufzubauen. Aber um nach Südamerika zu kommen braucht er mehr als nur ein paar Rubel und so überzeugt er seine Kumpane Panikowski, Shura Balaganow und den Automobilbesitzer Kozlewic, dass sie sich auf die Suche nach dem letzten Millionär der Sowjet zu machen.
„Nein, das ist nicht Rio de Janeiro“
Als Ziel steuern sie zwar vorerst Tschernomorsk an, bald landen sie aber an der Ostmagistrale in Zentralasien, wobei genau genommen eigentlich nur Bender dort ankommt und tatsächlich auf Korejko trifft. Als Ostap Bender dann endlich zu seiner Million kommt, so viel darf verraten werden, weiß er gar nicht so genau, was er damit anfangen soll. „Was jetzt? Meditierte er. Was mach ich mit dem verfluchten Zaster, der mich ausschließlich um moralische Qualen reicher macht? Ob ich ihn verbrenne?“, frägt er sich bald. Erst versucht er Zosia Zinicka, Korejkos ehemalige Freundin, mit Telegrammen zu erobern, doch als diese anderweitig vergeben ist, orientiert er sich schnell wieder um, und holt sich sein Paket, das er an den Volkskommissar für Finanzen adressiert hatte, wider Erwarten doch noch zurück. Wenn es mit der Liebe nicht klappt, dann wenigstens mit der Million. Mit „In diesem Borscht nach Flottenart, sagte er mühsam, schwimmen die Trümmer von gestrandeten Schiffen“, versucht er das Liebespaar zu unterhalten und macht sich davon. „Ich muss in Einsamkeit ein wenig über das Vorgefallene philosophieren und die notwendigen Prognosen für die Zukunft stellen.“
Der arme Poet und Polygam
Die absurde Geschichte um das Goldene Kalb und die Jagd nach der Million ist voller Satire, Zynismus und Humor. Ostap Bender ist eine literarische Figur, die ganz in der Tradition des Svevo’schem „inetto“ steht, immer dann, wenn ihm etwas gelingt, dann interessiert es ihn nicht mehr oder er ist einfach unfähig, wirklich etwas daraus zu machen. Für Menschen wie Ostap Bender spielt es keine Rolle in welchem politischen System sie leben. Sie bleiben Individualisten, die sich in keine Schublade stecken lassen. „Ich bleibe der arme Poet und Polygam, der ich immer war, aber bis zu meinem Tode wird mich der Gedanke trösten, dass ich die Gesellschaft von einem großen Geizkragen befreit habe.“ Was dann am Ende mit der Million geschieht ist eigentlich ebenso nebensächlich, wie Benders Traum, Rio de Janeiro, denn an beidem kann ein Mensch wie er eigentlich nur scheitern, weil er weiß, dass manche Träume besser Träume bleiben, weil sie so am schönsten sind.
Von Hörnern und Hufen im Geiste des Orient
Viele Redewendungen aus dem Roman sind auch in die sowjetische-russische Alltagssprache übergegangen, etwa wenn Bender den Zugschaffner, der vermeintliche Schwarzfahrer erwischt, mit der Aufforderung zu mehr Gastfreundschaft im Sinne des „Geistes des Orients“ ermahnt. Der Ausdruck „Hörner und Hufe“(Russisch: Рога и копыта – Roga i kopyta) , der stark an das Italienische „cornuto“ – also auf die Hörner genommen/betrogen – erinnert ist im Roman die Bezeichnung für eine von Ostap Bender eröffnete Scheinagentur, also eine Umschreibung für unseriöse Geschäfte. Der Ausdruck зиц-предс 077;датель – Siz-predsedatel wiederum bezeichnet auf Deutsch einen Strohmann, also einen „Sitz-Vorsitzenden“, der für andere eine Gefängnisstrafe absitzen zu seinem Job gemacht hat. „Das Bier wird nur an Gewerkschaftsmitglieder verkauft“(russisch: Пиво отпускае
90;ся только членам профсоюз
72; – Piwo otpuskajetsja tolko tschlenam profsojusa) oder „Das Automobil ist kein Luxusobjekt, sondern ein Fortbewegungsmittel“ (Russisch: Автомоби
83;ь — не роскошь, а средство передвиж
77;ния – Awtomobil – ne roskosch, a sredstwo peredwischenija) sind weitere legendäre Ausdrücke aus dem Roman.
“Pilite, Schura, pilite!“
„Sägen Sie, Schura, sägen Sie!“(Russisch: Пилите, Шура, пилите! – Pilite, Schura, pilite!). sagt man dann, wenn jemand versucht, durch Verheimlichen seine Strafe für ein gescheitertes Unternehmen hinauszuschieben. „Nun werde ich mich zum Hausmeister umqualifizieren“ (Russisch: Придется переквал
80;фицирова& #1090;ься в управдом
99; – Pridetsja perekwalifizirowatsja w uprawdomi), die letzten Worte im Roman, stehen stellvertretend für die geplatzten Träume, seien es jene von Rio de Janeiro oder die von einer Million Rubel. Denn als eine von vielen Pointen kann Ostap Bender seine Million am Ende gar nicht einsetzen, weil die Chargen der Produktionsmittel nur auf Fabrikeinheiten und nicht individuelle Bestellungen eingestellt sind. In der Sowjet diente eben alles dem Kollektiv, da hatten Ostap Benders nichts verloren…In der Anderen Bibliothek sind als Bände Nummer 320/321 auch „Das eingeschossige Amerika“ von denselben Autoren erschienen. Ilf und Petrow reisten tatsächlich im „Auftrag der Wahrheit (Prawda)“1935 in die Vereinigten Staaten und besuchten Stripshows, reisten durch die Wüste und wunderten sich, dass nicht alle in Wolkenkratzern lebten. „Wäre Amerika sowjetisch, dann wäre es das Paradies.“ Sie trafen auch den überraschenderweise Kapitalismus-kritischen Automobil-Mogul Henry Ford. „Zwölf Stühle“ (1928), der Vorgänger von „Das goldene Kalb“, in dem es auch um Ostap Bender geht, erwartet allerdings noch eine Neuauflage.
Ilf, Ilja/Petrow, Jewgeni
Das Goldene Kalb oder die Jagd nach der Million
Roman
Übersetzt aus dem Russischen und anhand des erstmals vollständig vorliegenden russischen Originals überarbeitet von Thomas Reschke
469 Seiten, Bandnummer: 340, Limitierte Ausgabe, in goldfarbenes und fein strukturiertes Einbandmaterial gebunden, geprägt, Fadenheftung, Lesebändchen, Buchgestalter: Jens Müller,
ISBN: 9783847703402,
38,00 EUR
DIE ANDERE BIBLIOTHEK
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-09-03)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.