Hinter jedem erfolgreichen Mann steht eine starke Frau: auf diese Binsenweisheit ließe sich der Roman "Vierzig Rosen" von Thomas Hürlimann zusammenfassen. Freilich beschnitte man damit auch Hürlimanns fein gezeichnetes und überaus kurzweiliges Portrait weiblicher Fähigkeiten und Leidensfähigkeiten. Doch der Reihe nach: der Roman erzählt auf 368 Seiten vom Aufstieg des schweizerischen Provinzpolitikers Max Meier hinein in höchste Partei- und Regierungskreise aus der Perspektive der Marie Meier, geborene Katz, seiner Frau. Die erhält von ihrem Mann zum Geburtstag jedes Jahr vierzig Rosen - eine Geste der vermeintlichen Wertschätzung für die vermeintlich immerjunge Gemahlin. Ein nicht sonderlich einfallsreiches Liebessymbol, das illustriert, wie wenig Stil der Gatte ganz im Gegensatz zu seiner Ehefrau besitzt, die ihm zuliebe eine glänzende Karriere als Pianistin geopfert hat. Einen dieser Geburtstage nimmt Marie nun zum Anlass für einen Lebensrückblick, der den Leser mit in die
Familiengeschichte der Schneiderdynastie Katz hinein nimmt, deren jüdischer Urahn aus Osteuropa einwanderte und seinen Aufstieg aus ärmlichsten Verhältnissen begann. Stationen ihres eigenen Lebens aus Kindheit und Jugend werden wiedererinnert, das allabendliche Klavierspiel unter der liebenden und gestrengen Anleitung des Vaters, die unterschwelligen und offenen Anfeindungen ihrer christlichen schweizerischen Mitbürger während der Nazizeit, als die Eidgenossen sich offenbar vor einem Einmarsch der "Nibelungen", wie sie bei Hürlimann genannt werden, fürchteten, Maries schwere Zeit in einem katholischen Mädchenpensionat (ihre Mutter war bereits konvertiert, Maries Bruder sogar zum Geistlichen geworden), die geheimnisvolle Flucht des Vaters nach Afrika. Nach dem Krieg mündet die Liaison mit dem kraftvollen und ehrgeizigen, aber aus einfachen Verhältnissen stammenden Max Meier in eine Ehe voller bürgerlicher Konventionen und Beschränkungen, die auf eindrucksvolle Weise die Verlogenheit der helvetischen Gesellschaft (und damit ebenso die der deutschen) widerspiegelt. Marie erträgt die Abfolge von Demütigungen und politbedingten Öffentlichkeitsschauspielen nur durch die innere Aufspaltung in die "Sternenmarie", die ein kunst- und vaterbezogenes romantisches Mädchen bleibt, und in die kühl kalkulierende "Spiegelmarie", die ihrem Mann den Weg nach oben bahnen hilft. Leider wird nie wirklich klar, weshalb sich Marie überhaupt auf den ungeschliffenen, gleichwohl schmierigen Max Meier eingelassen hat und was sie eigentlich an ihrem Doppelleben, das sie selbst unablässig ironisch kommentiert, so fasziniert, dass sie die Verbindung nicht löst. Sie hat die Begabung, sie hat das Vermögen - zum Teufel mit Max Meier, möchte man meinen. Aber die Liebe ist eben anders. Doch ist es Liebe? Max erkannte Marie einst als die perfekte kommende First Lady und bekannte sich zu ihr und ihrer jüdischen Herkunft zu einer Zeit, als der Stern des Dritten Reiches bereits am Sinken war. Eine dünne Grundlage für eine Ehe. Während man Max' Eintreten für diese Verbindung gut nachvollziehen kann, bleibt sie letztlich in Bezug auf Marie ein Rätsel. "On a du style", das Motto Mamans, der Mutter von Marie, das diese von klein auf verinnerlicht hat, wird so zur alles erklärenden Floskel: stilvoll, aber eben willensschwach, Geborgenheit suchend. Hier macht es sich Hürlimann wohl etwas zu einfach. Sieht man jedoch von dieser grundsätzlichen konzeptionellen Schwäche des Romans ab (und das kann man ohne großes Bedauern), wird man mit einer Fülle von wunderbar beobachteten Detailschilderungen aus der Welt der Marie Katz und ihrer Erinnerungen belohnt - und mit einem grandiosen Schluss, in dem sich die Protagonistin noch einmal auf ihre ganz persönliche Weise mit schweren Schicksalsschlägen auseinandersetzen muss. Hürlimanns Sprache ist kunstvoll, aber unprätentiös. Sein Stil (et il vraiment a du style!) ist sanft ironisch, lässt nirgendwo Brüche oder Längen e rkennen. Der Autor ist im Wortsinne "Autor", Beherrscher seines Textes, ein Erzähler, der sicher nicht zur erzählerischen Avantgarde gehört, der seine Leser aber auch nicht mit unausgegorenen Experimenten behelligt. Hürlimann hat, wie schon so oft in der Vergangenheit, auch in diesem Werk offenbar wieder autobiografische Aspekte aufgegriffen (ist er doch beispielsweise selbst Sohn eines Schweizer Politikers), was für die Rezeption des Romans jedoch sekundär erscheint. Am interessantesten ist wohl der gesellschaftliche Kontext, vor dem sich das Schicksal "Mariemax'/Maxmaries" abspielt, jenes Doppelwesens, das alle Eigenschaften zum Aufstieg an die Spitze mitbringt, der plastisch aufgerufene Hintergrund der vierziger bis siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts eidgenössischer Lebensrealität und Denkungsart, den man als Bundesdeutscher so nicht kennt (und gleichwohl an der Spiegelung der eigenen Geschichte wiedererkennt). Thomas Hürlimann ist hier ein Familienroman gelungen, den man vorsichtshalber so gar nicht titulieren sollte, will man die diesem Begriff fast schon implizite Langatmigkeit nicht noch betonen: ansprechend lesbar, streng und doch elegant komponiert - und vor allem nie langweilig.
[*] Diese Rezension schrieb: Marcus Neuert (2010-01-04)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.