Houellebecqs zweiter Roman, im Jahre 1998 bei Flammarion in Paris erschienen, polarisierte Leserschaft und Kritik wie nur wenige andere Bücher in den letzten beiden Dekaden. Er handelt von zwei Halbbrüdern, die zwar beruflich mitten in der modernen französischen Gesellschaft stehen, deren Sozialisation aber dennoch gründlich daneben gegangen ist. Da sind Michel, der autistisch vor sich hin forschende Molekularbiologe, der beinahe asexuell und ohne Bezugspersonen ein freudloses Leben zwischen Arbeitsplatz, Supermarkt und Etagenwohnung führt (ist es ein Zufall, dass er ausgerechnet den Vornamen des Autors trägt?), und Bruno, der sexkranke Lehrer, dessen Familienleben scheiterte und der außer meist erfolglosen erotischen Abenteuern nur wenig im Sinn hat. Beide stellt der Autor als Opfer einer verantwortungslosen Mutter aus der 68er-Generation dar und versucht an ihnen zu demonstrieren, wie sinnentleert und kalt sich das menschliche Leben im ausgehenden Zeitalter des Materialismus manifestiert. Die Beschreibung der beiden Lebenswege gerät trotz ausgesprochen drastischer Sex- und Gewaltszenen über weite Strecken zu einem anrührenden persönlichen Erzähldokument. Durch die offensichtlich vom Autor intendierte Projektion der Protagonisten auf die französische - will sagen westliche - gesellschaftliche Realität der vergangenen Jahrzehnte entsteht allerdings eine überhöhende, pseudo-philosophisch unterlegte Metaebene, an der sich Houellebecq schlichtweg übernimmt. Er verstößt in seinem Roman offenbar ganz bewusst gegen das heilige "Show-don't-tell" der meisten ernstzunehmenden Erzähler der Moderne, führt stattdessen immer wieder essayistisch anmutende Exkurse durch, in denen dem Leser die Sicht des Autors auf die Dinge vermittelt werden soll. Er vertraut seiner Geschichte offenbar selbst nicht völlig, seine Protagonisten handeln oft fast ohne Bezug zu den großen Thesen des Buches: den metaphysischen Revolutionen der Menschheit mit den Stationen des aufkommenden Christentums, dessen Verdrängung durch den individualistischen Materialismus der Neuzeit und wiederum dessen Überwindung durch Schaffung eines neuen Menschen mit Hilfe der Biotechnologie. Dafür hat man Houellebecq gar geistige Nähe zum Faschismus vorgeworfen. Das erscheint wiederum ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Der Autor vollzieht mit dem Roman allerdings eine durchaus radikale Abrechnung mit Jugendwahn und übersteigertem Individualismus, die durchaus auch konservative Tendenzen in sich birgt. Die Auseinandersetzung mit der Quantenphysik und dem Positivismus des Philosophen Auguste Comte (1798-1857) in den essayistischen Einschüben wirkt etwas bemüht auf den Rahmen des Romanes hin konstruiert, in der aus einer weit im 21. Jahrhundert liegenden Perspektive heraus auf die genetischen Forschungen Michels und der daraus resultierenden Erschaffung eines neuen unsterblichen, nicht mehr von Leidenschaften und individualistischen Trieben geprägten Menschen zurück geblickt wird. Überhaupt dürften insbesondere die ins Feld geführten naturwissenschaftlichen Behauptungen und Schlussfolgerungen für mehr als neunzig Prozent der Leser nur begrenzt verständlich und überprüfbar sein (der Rezensent schließt sich ausdrücklich ein). Nun ist Unwissenheit natürlich keine Entschuldigung - aber hätte man es nicht besser bei der schlichten Erzählung um die beiden Protagonisten und ihre jeweils spät entdeckte bzw. wiederentdeckte Lebensliebe zu zwei Frauen belassen, die dann durch Krankheit, Selbstmord und Wahnsinn ein tragisches Ende findet? Das ist so hoffnungslos, aber auch so unter die Haut gehend erzählt, dass man auf den ganzen utopistischen Überbau getrost hätte verzichten können. Fazit: Trotz aller Einwände ein lesenswertes Buch, auch wenn Houellebecq mit "Elementarteilchen" letztendlich an seinem eigenen Anspruch auf hohem Niveau scheitert.
[*] Diese Rezension schrieb: Marcus Neuert (2010-01-30)
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