Ein altes literarisches Thema nimmt Mary Hooper in ihrem neuen Roman auf, das Thema des armen Waisen, dem aber in Wahrheit ein großes Vermögen offensteht. Vielfach bereits wurde dieses Grundthema im Lauf der Literaturgeschichte aufgenommen und entfaltet.
Vorweg gesagt, ganz neue Wege im Blick auf dieses literarische Thema geht Mary Hopper nicht, das Genre des armen Waisen, dem unverhoffter Reichtum winkt, erfindet sie nicht neu, es verbleibt beim Lesen der Eindruck, die Geschichte bereits in dieser oder anderer Form zu kennen. Das aber muss kein Nachteil sein, durchaus lesenswert ist ihre teils dramatische Geschichte um die beiden Waisen Grace und Lily, die im London des Jahres 1861, einer nicht besonders attraktiven Zeit für arme Menschen, versuchen, sich durchs Leben zu schlagen.
Grace lernen wird auf der Fahrt zu einem Friedhof, dem Nekropolis, vorgestellt, wo sie ihr totgeborenes Kind heimlich bestatten möchte. Ein Kind, aus einer Vergewaltigung entstanden, auch dies Teil der alltäglichen Gewalt und harten Realität dieser geschichtlichen Epoche.
Mary Hopper, das merkt man bereits hier am Beginn des Buches, lässt sich Zeit für die Schilderung ihrer Protagonisten und der sie umgebenden Welt. detailgetreu und lebendig taucht vor dem Auge des Betrachters diese längst vergangene Welt mit all ihren Facetten auf, ebenso differenziert werden die handelnden Personen mit viel Empathie eingeführt und dargestellt.
Jene Grace ist nun gar nicht so arm, wie sie meint und wie es ihr ergeht. Wenn sie doch nur Zeitung lesen würde. Denn per Annonce wird ihre Schwester Lily als Erbin eines großen Vermögens gesucht. Zeitung lesen durchaus aber andere, vor allem der Bestatter Unwin, den Grace auf Nekropolis zufällig kennenlernt. Bei diesem spricht sie bald darauf in größter Not für eine Anstellung vor und Unwin reimt sich schnell zusammen, wen er da vor sich hat. Fortan setzt er alles daran, das Vermögen ins eine Hände zu bekommen. Gemeinsam mit seinem Cousin entwickelt er einen Plan, Lily um die Erbschaft zu betrügen.
Gut, dass Grace im jungen Anwaltsgehilfen James einen neuen Freund findet, mit dessen Hilfe sie dem verruchten Plan und dem ausstehenden Erbe auf die Spur kommt. Je mehr aber Grace und James das Komplott enttarnen, desto mehr geraten sie in Gefahr, denn Unwin gibt nicht kampflos auf.
Wie erwähnt lebt der Roman nicht aus dem Erfinden einer ganz neuen Thematik, wohl aber aus der wunderbaren Erzählweise Mary Hoopers heraus. Lebendig und differenziert gezeichnete Figuren bevölkern die von ihr ebenso plastisch wie gut recherchierte Welt Londons im ausgehenden 19. Jahrhundert. Überraschende Wendungen verzahnen das Ende des Buches mit dem Anfang und ergeben so ein stimmiges und logisches Bild der Geschichte. Dass die Guten gut und die Bösen schlecht sind ist letztlich Teil dieser Art von Geschichten und dient hier in bester Weise der Übersichtlichkeit der Ereignisse. Und natürlich gibt es eine Art Happy End, aber auch dieses verbleibt nicht in oberflächlicher Weise, sondern ist durchaus mit Wehrmutstropfen befrachtet. Abschließend bleibt noch der kurze, aber sehr informative Anhang zur konkreten Zeitgeschichte im Blick auf den Umgang mit Waisen, die Armutsgesetzte in London, die Bestattungsformen und auf Charles Dickens zu erwähnen.
Rundum ein gut lesbares Buch zu einem bekannten Thema mit realitätsnahen und plastisch geschilderten Figuren in einer lebendig und historisch genau recherchierten Welt des Jahres 1861 gestaltet.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2010-07-17)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.