Paulus Hochgatterer, Fliege fort, fliege fort, Deuticke Verlag 2019, ISBN 978-3-552-06403-4
Schon in seinen beiden hervorragenden Romanen „Die Süße des Lebens“(2006) und „Das Matratzenhaus“ (2010) hatte der in Wien lebende und dort als Kinderpsychiater arbeitende Schriftsteller Paulus Hochgatterer ein Ermittlerduo vorgestellt, wie es unterschiedlicher nicht sein könnte.
Da ist zum einen Raffael Horn, ein in einer Klinik arbeitender Kinderpsychiater. In diese Person und ihre Ansichten politischer und psychologischer Natur hat Hochgatterer vermutlich sehr viel Eigenes hineingelegt. Horn schaut ohne Illusionen auf sein Leben und seine Tätigkeit:
„Das Leben geht immer schlecht aus. Als Psychiater bin ich in Wahrheit mit nichts anderem beschäftigt als damit, den Menschen vorzumachen, dass es nicht so ist. Ich bin ein Gaukler, dachte er. Dass das Leben immer schlecht ausgeht, ist Grund genug, verrückt zu werden oder sich aufzuschneiden oder sich Heroin in die Venen zu hauen, aber das darfst du nicht laut sagen.“ („Die Süße des Lebens“)
Dabei wird er nie zynisch, sondern er trägt zutiefst menschliche Züge, sowohl in seinen beruflichen, als auch in seinen privaten Beziehungen. Er macht sich keine Illusionen, nicht über die Politik seines Heimatlandes Österreich und der Notablen seiner Stadt Furth , in die er nach seiner Facharztausbildung in Wien zusammen mit seiner Frau gezogen ist, und auch nicht über seine Beziehung zu seinen Kindern.
Zum anderen ist Teil des Duos der Kriminalkommissar Ludwig Kovacs, der, geschieden, in einer lockeren, von seiner Seite aus hauptsächlich sexuell orientierten Beziehung mit Marlene, der Betreiberin eines Secondhand-Shops lebt, mit der er sich in der Regel einmal in der Woche zu einem Essen und anderen Bedürfnisbefriedigungen trifft. In seinen einsamen Nachtstunden blickt er durch ein Fernrohr in die Weite des Universums, und versucht dabei seine Gedanken und Gefühle zu ordnen.
Beide sind mittlerweile älter geworden. Horn spricht oft laut aus, was er denkt und schlägt sich mit seinem renitenten Sohn Tobias herum, den Hochgatterer in den vielsträngigen Handlungsverlauf des Buches einbezogen hat, und Kovacs steht kurz vor seinem Ruhestand und lässt sich von nichts und niemand aus der Ruhe bringen
Obwohl sie sich auch in diesem Buch nicht persönlich begegnen, sind Horn und Kovacs in ihren jeweiligen Tätigkeiten konfrontiert mit den gleichen Phänomenen, bei denen etliche ältere Menschen auf mysteriöse Weise zu erheblichem körperlichem Schaden kommen. Sie haben zunächst nur eines gemeinsam: sie schweigen eisern über den wirklichen Tathergang.
Unerklärlich scheinen all diese Vorkommnisse, die der Autor beschreibt. In Furth am See hat sich einiges geändert. In der sogenannten „Burg“, einem ausrangierten und halb verfallenen ehemaligen Kinderheim, hat der Staat ein Quartier für alle unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge des Landes eingerichtet, das nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von der Polizistin Petra Lindström, die zu dem Referat von Kovacs gehört, als „Lager“ bezeichnet wird. Es wird bewacht von einem privaten Sicherheitsdienst, schwarz gekleideten jungen Männern, die sich „Aktion 18“ nennen, ein klarer Hinweis auf die rechtsradikale Gesinnung dieser Truppe.
Etliche dieser Flüchtlinge besuchen auch das örtliche Jugendzentrum „Come In“, in der aus dem ersten Roman bekannte Benediktinerpater Joseph Bauer in einem Betreuerteam mitarbeitet.
All diese Menschen werden von Paulus Hochgatterer in eine Handlung eingeführt, in der der Leser lange keine roten Faden sehen kann, sich aber an der meist in wunderbar formulierter indirekter Rede gehaltenen Sprache des Autors erfreut. Wie er die Personen in Horns und Kovacs jeweiligen Abteilungen beschreibt und ihre Beziehungen untereinander, steht in einem wohltuenden Gegensatz zu der dunklen und bedrohlich erscheinenden Welt, in der sie leben und ihren Dienst tun.
Immer wieder in ihre privaten Angelegenheit involviert, die Hochgatterer sensibel und warmherzig beschreibt, versuchen sie die spärlichen Anhaltspunkte, die ihnen zur Verfügung stehen, miteinander zu verbinden.
Als dann noch ein Mädchen spurlos verschwindet, sind sie gezwungen, in eine ganz alte, offenbar längst vergangene Geschichte einzutauchen, die zu tun hat mit der „Burg“ und dem, was darin einst vor sich gegangen ist.
Der Roman bietet Unterhaltung und Spannung auf einem sehr hohen sprachlichen und literarischen Niveau. In einer Danksagung nennt er seinen Roman „ein Buch über den Sieg der Imagination des Individuums über die Diktatur der gleichgerichteten Einigkeit.“
Paulus Hochgatterer hat erneut vieles von dem, was ihn als politischen Zeitgenossen in Österreich bewegt und beschäftigt, sehr gelungen in seine beiden Hauptfiguren gelegt und einen offenen, den Leser teilweise verstörenden Roman geschrieben, in der er Verbrechen an Kindern thematisiert, die am Rande der Gesellschaft leben. Hochgatterer erzählt auch durch seine besondere Technik undramatisch, und erzielt beim Leser dadurch eine Wirkung, die ihn aufs Tiefste berührt.
Ein großer Roman mit beeindruckenden Figuren.
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2019-11-04)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.