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Eric Hobsbawm - Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts
Buchinformation
Hobsbawm, Eric - Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts bestellen
Hobsbawm, Eric:
Das Zeitalter der
Extreme. Weltgeschichte
des 20. Jahrhunderts

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(Bücher frei Haus)

„Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern eine anormale Minderheit“, schrieb der italienische Holocaust-Überlebende und Schriftsteller Primo Levi einmal über das 20. Jahrhundert, das „Zeitalter der Extreme“, wie Hobsbawm es nennt. Nach „Age of Revolution/ Capital/Empire“, das er in seinen Werken über „das lange 19. Jahrhundert (1789-1914)“ beschrieben hat, legt er in vorliegender Publikation (die in Katastrophenzeitalter, Goldenes Zeitalter, Der Erdrutsch gegliedert ist) seine Sicht des „kurzen 20. Jahrhunderts (1914-1991)“ vor, das nicht nur ihn, den 2012 verstorbenen englischen Historiker mit österreichischen Wurzeln, tief erschüttert zurückgelassen hat. Bis auf die wenigen „glücklichen dreißig Jahre“ zwischen 1945 und 1975 („Das Goldene Zeitalter“) war das 20 Jahrhundert - seiner Ansicht nach - nämlich für allem durch Kataklysmus gekennzeichnet, ein Wort, das Hobsbawm gerne immer wieder für „sein“ Katastrophenjahrhundert verwendet und das eigentlich nichts anderes als Sintflut bedeutet. Das 20. Jahrhundert hat ja tatsächlich die größten Hoffnungen hervorgerufen und alle Ideale und Illusionen zerstört, wie es Yehudi Menuhin ausdrückte. Aber wann nahm diese Katastrophe eigentlich ihren Anfang?

Der Retter in der Not
Den Ursprung des Niedergangs sieht Hobsbawm in der Weltwirtschaftskrise, die indirekt durch den Kolonialismus und den damit einhergehenden Imperialismus ausgelöst worden war. Der Schwarze Freitag 1929 beendete nicht nur den Imperialismus als solchen, sondern auch den Liberalismus, denn diese Spielart des Kapitalismus sollte nun alsbald durch den Faschismus ersetzt werden. Auch wenn Mussolini ja schon sieben Jahre vorher zur Macht gekommen war, so lässt sich das auf die Wirtschaftskrise folgende Jahrzehnt zweifellos als „Dekade des Faschismus“ bezeichnen, in der - mit Ausnahme einiger weniger liberaler Demokratien - Mitteleuropa geistig und materiell verwüstet wurde. Die „temporäre und bizarre Allianz von liberalem Kapitalismus und Kommunismus“ war es, die dem Kapitalismus schließlich das Überleben sicherte, und ohne Sowjetunion wäre dieses Projekt tatsächlich nicht gelungen. Die Sowjetunion hat - unbeabsichtigt - nämlich dafür gesorgt, dass sich ihr „Hauptfeind“ reformierte und sein Überleben so für weitere 100 (oder mehr?) Jahre gesichert wurde. Die Sowjetunion wurde so wider Willen zum „Retter des liberalen Kapitalismus“, so Hobsbawm wörtlich, und ohne diese hätte es auch keine so starken Sozialdemokratien in Westeuropa gegeben, keine Reformen, keine Sozialprogramme, die ihm schließlich das Überleben auch wirklich garantieren konnten und so für das „Goldene Zeitalter“ – die „glücklichen dreißig Jahre“ - zwischen 1945 und 1975 sorgten.

Das mörderischste Jahrhundert der Menschheit
Eric Hobsbawm ist überzeugt, dass ohne Oktoberrevolution die Welt heute aus einer Reihe von „autoritären und faschistischen Varianten“ bestünde, statt aus einem „Ensemble unterschiedlicher liberaler, parlamentarischer Demokratien“. Aber Aufgabe des Historikers sei es nicht zu fragen, was wäre gewesen wenn, sondern „in Erinnerung zu rufen, was andere vergessen haben“, zeigen wie die Dinge zusammenhängen und es erklären. Und das tut Eric Hobsbawm auf eine faszinierende Art und Weise, bei der sich die „Katastrophe“ wie ein spannender Roman liest, bei dem man selbst dabei war. Hobsbawm gelingt es auch die weitverbreitete Revisionismus-These Noltes auf den Kopf zu stellen: „Ohne den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts im Zeitalter der Katastrophe hätte es keine Oktoberrevolution gegeben.“ Und nicht etwa: ohne Oktoberrevolution keinen Faschismus. „Nur eine Rationalisierung ex post kann den Faschismus mit Lenin und Stalin entschuldigen.“ 1914 hatte das „Zeitalter des Massakers“ begonnen, in Verdun gab es eine Million Tote, während des Krieges verlor Frankreich 20% seiner Männer im wehrfähigen Alter. Die gueules cassés zogen Bilanz: Großbritannien hatte 25% Verluste (800.000), 1,8 Millionen bei den Deutschen. Aber es sollte noch zu viel mehr Blutvergießen kommen, denn der „einundreißigjährige Krieg“ wie Hobsbawm den II. Weltkrieg nennt, ließ 54 Millionen Tote auf den Schlachtfeldern und in den Städten zurück. Das ganze Jahrhundert war eigentlich ein Schlachtfeld: 187 Millionen Tote, also mehr als 1:10 Verluste: das „mörderischste Jahrhundert“ seit Anbeginn der Menschheit.

Stalin auf dem Vormarsch
Das Katastrophenzeitalter, das Hobsbawm mit 28. Juni 1914-14. August 1945 exakt zu datieren weiß, sei ein Lehrstück in Weltgeographie gewesen. Im Gegensatz zum langen 19., einer Periode beinahe ununterbrochenen materiellen intellektuellen und moralischen Fortschritts (Kriege nie gegen Zivilisten geführt) war das „amerikanische Jahrhundert“ vor allem durch Blutvergießen gekennzeichnet. Die Frage wer oder was den II.WK ausgelöst haben könne, beantwortet Hobsbawm „ganz einfach“ mit zwei Wörtern: Adolf Hitler. „Mit geradezu lächerlicher Leichtigkeit“ hätte die Deutsche Wehrmacht in Belgien und Frankreich einfallen können. Und erst durch den 22.Juni 1941 - das entscheidende Datum des II.WK – konnte eine Wende herbeigeführt werden. Anfang Oktober stand die Wehrmacht schon vor den Toren Moskaus, 1942-45 machte selbst das Terrorregime Stalins Pause. Stalingrad im August 1942 bis Jänner/Februar 1943 brachte die endgültige Wende: danach waren die Russen auf dem Vormarsch. Dennoch wurde es ein „amerikanisches“ und kein „russisches Jahrhundert“: mit dem Angriff der Japaner auf Pearl Harbor und dem Kriegseintritt der USA veränderte sich der Verlauf des Krieges endlich zugunsten der Alliierten.

Die bizarre und die unheilige Allianz
„Hitler wurde durch eine Koalition der nationalkonservativen Rechten an die Macht gebracht“, so Hobsbawm. Auch die Sozialfaschismusthese der Komintern spielte aber eine Rolle beim Aufstieg des Faschismus und nicht zuletzt eine andere unheilige Allianz: „Was die Kirche nicht nur mit den Reaktionären des alten Typs, sondern auch mit den Faschisten verband, war der gemeinsame Hass auf die Aufklärung des 18. Jahrhunderts und auf die Französische Revolution und alles was aus ihnen entstanden war: Demokratie, Liberalismus und der `gottlose Kommunismus´, dem natürlich der stärkste Abscheu galt.“ Schließlich lautet sein Resümee über die Zwischenkriegszeit: „Der Aufstieg der radikalen Rechten nach dem Ersten Weltkrieg war zweifellos eine Antwort auf die Gefahr – und in der Tat auch auf die Realität – einer mächtigen sozialen Revolution und einer starken Arbeiterklasse, und besonders auf die Oktoberrevolution und den Leninismus.“ Der Faschismus sei das „Mittelalter des Kleinen Mannes“, schreibt Hobsbawm und das ganze Gerede von einer „faschistischen Revolution“ sei pure Rhetorik, gewesen, denn die Regime seien demokratisch zur Macht gekommen, vom alten System habe die feierliche und freiwillige Übergabe stattgefunden.

Über Faschismus, Kommunismus, Künste und Physik
Der „Pionier für eine neue Version der siegreichen Konterrevolution“ kam nach 1945 so ins Hintertreffen, dass sich sein größter Feind „auf einem Sechstel der Landmasse der Erde“ ausbreitete. „Der wirkliche Effekt von zwölf Jahren Nationalsozialismus war übrigens, dass nun weite Teile Europas der Gunst und Gnade der Bolschewiken ausgeliefert waren.“ Und Hobsbawm erweitert süffisant: „Der Faschismus verschwand mit der Weltkrise, die sein Emporkommen ermöglicht hatte. Er war niemals, nicht einmal theoretisch ein Universalprogramm oder ein politisches Projekt gewesen.“ Über den Faschismus findet Hobsbawm viele treffende Worte: „Theorie war nicht die Stärke von Bewegungen, die auf die Unzulänglichkeiten von Vernunft und Rationalität eingeschworen waren und sich dem Primat von Instinkt und Willen verschrieben hatten.“ Aber wer glaubt Eric Hobsbawm schreibe nur über Politik oder Geschichte, der irrt. Auch über die Kunst weiß er: „Der beste Wein der Künste schien an den Lavahängen von Vulkanen zu hängen“ und am Ende seines Buches gibt es sogar ein Kapitel über die Physik, ganz so wie man es von einem gebildeten Europäer erwartet.

Moskaus (gelungener) Bluff
„Ihre Visionen waren von Bitterkeit gekennzeichnet, nicht von Glück;“, schreib Hobsbawm über die Künstler Osteruropas, „und diese Bitterkeit, genährt von einem Gefühl für kommende Tragik, verlieh selbst relativ durchschnittlichen Talenten eine Art von düsterer Eloquenz…“. Natürlich lobt Hobsbawm auch die Errungenschaften der freien Welt wie etwa den Jazz oder andere Spielarten der Dekadenz: „Die Populärkultur der Welt war amerikanisch, oder sie blieb provinziell“. Der „nordatlantische Krake“ spielte aber nicht nur Musik, sondern gab auch im Kalten Krieg den Ton an: Der Ton des Kalten Krieges kam aus den USA, JFK wurde etwa vor allem deswegen gewählt, weil er Antikommunist gewesen sei. „Der Reagansche Kalte Krieg richtete sich daher nicht nur gegen das `Reich des Bösen´ draußen, sondern auch gegen die Hinterlassenschaft von Franklin D Roosevelt im eigenen Haus: gegen den Wohlfahrtsstaat und gegen jede Art von Staat, der es wagte, sich einzumischen. Sein Feind war genauso der Liberalismus wie der Kommunismus.“ Ein Kreuzzug war der Kalte Krieg also vor allem für die USA, nicht für Moskau, deswegen wäre ein Mann wie Gorbatschow dort unmöglich gewesen. „Die Sowjetunion lag nach dem Krieg in Trümmern; sie war ausgeblutet und erschöpft; ihre Friedenswirtschaft war in Stücke gegangen; und ihr Regime stand voller Misstrauen einer Bevölkerung gegenüber, die einen deutlichen und verständlich Mangel an Loyalität gezeigt hatte.“ (Moskaus Bluff) Der Kalte Krieg war aber auch der Deckel auf Konflikten. „Nach seinem Ende (dem des KK) sollte sich deutlich die Kluft zeigen, die sich zwischen gelösten und nur aufgeschobenen Problemen aufgetan hatte.“

Berlin: Das Hauptquartier der Weltrevolution
Wer glaubt Hobsbawms Haltung gegenüber der Sowjetunion sei zu unkritisch, der lese folgende Zeilen: „Stalin war ein Autokrat von außergewöhnlicher, manche mögen sogar behaupten einzigartiger Grausamkeit, Ruchlosigkeit und Skrupellosigkeit. Kaum ein anderer Mann hat je so einen umfassenden Terror ausgeübt.“ Zwischen dem XVII. und XVIII. Parteitag (1934/1939) sank die Zahl der ursprünglichen Parteimitglieder von 1.827 Delegierten auf 37. Nur so wenige Bolschewiken hatten Stalins Säuberungen überlebt. 4-5 Millionen Parteimitglieder waren verhaftet worden und vier oder fünfhunderttausend hingerichtet. Die Bürger der SU waren aber eher entpolitisiert und weniger totalitär im eigentlichen Sinne geprägt, meint Hobsbawm. Timothy Garton Ash machte nach der Wende ein paar Umfragen in Osteuropa und musste dort u.a. hören, dass „Lenin Marx ins Ungarische übersetzt habe“. Das als Beweis heranzuführen, dass die Diktatur nicht totalitär war, ist zwar etwas dünn, aber Hobsbawm macht seinen Punkt und wird nicht müde zu betonen, dass nach Lenins Ansicht Moskau ohnehin nur das befristete Hauptquartier des Sozialismus bleiben sollte, bis zu dessen Umsiedlung zum ständigen Hauptsitz in Berlin. Die offizielle Sprache der Internationale, die 1919 als Generalstab der Weltrevolution gegründet worden war, war sowieso nicht Russisch gewesen, sondern „war und blieb“ Deutsch.
Eines der besten und spannendsten Bücher überhaupt. Man muss es einfach gelesen haben, um überhaupt mitreden zu können. Im letzten Kapitel „Erdrutsch“ – das sich mit der Zeit nach der Wende bis heute beschäftigt – schreibt Eric Hobsbawm: „Die Zivilisation, die die Wortmagie der Reklamen zu einem Grundprinzip ihrer Wirtschaft erhoben hatte, war ihren eigenen Täuschungsmanövern aufgesessen.“ Damit kämpfen wir heute.

Eric Hobsbawm
Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts.
dtv 12. Auflage 2014, 784 Seiten

[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-12-03)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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