Helen Hirsch - Not my Circus, not my Monkeys: Das Motiv des Zirkus in der zeitgenössischen Kunst
Buchinformation
"Ja hoffentlich doch einen Artisten!", hörte ich unlängst auf die Frage, wen die Tochter denn heiraten will. Der Begriff "Artist" hat im 20. Jahrhundert eine Bedeutungsverschiebung erhalten oder kann gar als Begriffsdüne bezeichnet werden. Artisten waren ursprünglich unweigerlich mit dem Zirkus verbunden, aber gemeint waren zumeist Akrobaten. Dass ein Artist (also: Künstler) allerdings auch ein guter Akrobat sein muss, zeigt vorliegende Publikation des Hirmer Verlages, die die Manege für eine Gruppenausstellung einer Vielzahl zeitgenössischer Künstler:innen öffnet.
Manege frei für eine zeitgenössischen Zirkus
"Das Motiv des Zirkus in der zeitgenössischen Kunst" beschäftigt sich in einschlägigen Essays mit Werken internationaler, zeitgenössischer Künstler:innen und bietet einen Ausgangspunkt für künstlerische, kulturhistorische, tierethische, feministische sowie rassismuskritische Untersuchungen. Das Hinterfragen aktueller gesellschaftlicher Strukturen und Diskurse gehörte dabei quasi zum Nonplusultra. So spielt etwa der englische Originaltitel "NOT MY CIRCUS, NOT MY MONKEYS" auf ein polnisches Sprichwort an, das im Deutschen mit "Not my coffee" ausgedrückt wird. Zumindest erklärt das Helen Hirsch in ihrem Vorwort, wenn sie den Kulturtransfer des Zirkus damit erklärt, dass Besucher:innen im Zirkus oft eine Art Gegenwelt zum Alltag sahen. Eine ethische Haltung in der Zirkuswelt sei bis ins 20. Jahrhundert allerdings nie vorhanden gewesen, so Hirsch: "Diskriminierung, Unterdrückung und Stigmatisierung gehörten zur Tagesordnung". Ein drastisches Beispiel dafür war sicherlich z.B. die kommerzielle Zurschaustellung der sog. "Freaks of nature". Tod Browning in seinem 1932 erschienen Film "Freaks" stellt einen Höhepunkt dar, aber zuvor spielten auch Kolonialismus und Imperialismus - in Zeiten ohne Film und Fernsehen - eine große Rolle bei der "Volksbelustigung". Voyeurismus pur. Der Katalog zur Ausstellung ist zweisprachig gehalten und durchgehend illustriert.
Der Clou des Spektakels
"Unmöglich herauszufinden, welches alte Traumbild uns mit Sehnsucht erfüllt. Wonach sehnen wir uns? Nach welcher Gesellschaft? Welchem Ideal? Welcher Sanftheit", wird Éric Vuillard zitiert, "denn der Clou des Spektakels ist nicht das Spektakel, es ist die Wirklichkeit". Einige der künstlerischen Interventionen zum Thema, die jeweils mit Foto und Text einen Wirkungsraum bekommen, seien hier kurz erwähnt. Miriam Bäckström zeigt einen alten Clown auf einem alten Canapé, der Widerspruch der ihm zugewiesenen Rolle als Pierrot und seiner tatsächlichen Gemütsverfassung spricht Bände. Istvan Balogh hat sich für einen Affen mit einer halben Zitrone auf dem Kopf entschieden, der selbst - ohne menschliche Intervention - agiert. Die Künstlerin Latifa Echakhch, die in der Schweiz arbeitet, verfolgt einen philosophischen Ansatz: in einer sensationsgeilen Zeit kehrt sie zu Keulen und Stühlen zurück. Zilla Leutenegger zeigt einen aufklärerischen Bären, der ein aufklärerisches Schild emporhält. Dieter Meier (Yello) ist mit einer Katze vertreten und gebärt sich damit als Houdini. Im Anhang befindet sich ein Werkverzeichnis und Kurzbiographien der vertretenen Künstler:innen. Eine Publikation die Mut macht für eine Neuinterpretation des Themas Zirkus. Weitere vertretene Künstler:innen: Kathryn Andrews | Miriam Bäckström | Istvan Balogh | Beni Bischof | Mona Broschàr | Barbara Breitenfellner | Michael Dannenmann | Zilla Leutenegger | Dieter Meier | Yves Netzhammer | Tal R | Augustin Rebetez | Boris Rebetez | Ugo Rondinone | Niklaus Rüegg | Francisco Sierra | Norbert Tadeusz | William Wegman u. a.
Hg. Helen Hirsch, Kunstmuseum Thun, Katrin Sperry
NOT MY CIRCUS, NOT MY MONKEYS
Das Motiv des Zirkus in der zeitgenössischen Kunst
Beiträge von H. Hirsch, A. Klay, S. E. Müller, M. Niekisch, A. Sedlmeier, M. Abou Shoak, K. Sperry, B. Stammberger
Text: Deutsch / Englisch
2023, 168 Seiten, 72 Abbildungen in Farbe, 23 x 28 cm, Broschur, Schutzumschlag
ISBN: 978-3-7774-4179-5
Hirmer Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2023-11-05)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.