Der deutsche Jude Edgar Hilsenrath hat im Jahr 2006 einen weiteren Roman veröffentlicht, der das Thema seines Lebens in den Mittelpunkt stellt: Den Holocaust und das Elend des Exils. Mit dem Roman Berlin... Endstation greift Hilsenrath in das unerschöpfliche Erfahrungsreservoir des Exilierten, den es über Frankreich in die USA trieb und von wo er Jahrzehnte später nach Deutschland zurückging. Nicht ungewöhnlich, aber selten, nicht halsbrecherisch, aber couragiert. Die von Hilsenraths biographischer Substanz getränkte fiktive Figur Joseph Leschinsky, genannt Lesche, erfährt es kurz vor seiner geplanten Rückkehr nach Deutschland von einem jüdischen Kollegen im Emigrantencafé in der 86. Straße. In Deutschland, so bedeutet ihm dieser, brauchst du nach keinem Holocaust-Denkmal zu suchen, Deutschland ist ein einziges Holocaust-Denkmal, überall.
Lesche lässt sich nicht abhalten, er ist Schriftsteller, er braucht die deutsche Sprache, ihn treibt es über London und München nach Berlin, wo er sich niederlässt und sogar Fuß fasst. Romane, die die amerikanischen Verlage nicht drucken wollten, finden hier in kleinen Häusern ihre Resonanz, der findige, lebensbejahende Lesche, der dennoch seine Albträume und sein Trauma nie los wird, erwirbt sich in kurzer Zeit eine bescheidene Existenz. Als jüdischer Schriftsteller gewinnt er aber immer mehr das Gefühl, dass alle ihm zeigen wollen, nein, wir sind nicht so, wie du denkst, wir waren das nicht, oder wir haben aus der Geschichte gelernt. Lesche entdeckt das Thema des Holocaust gegen die Armenier im Jahr 1915 für sich, er recherchiert, inspiriert durch den berühmten Roman Franz Werfels, der schon vor dem industriellen Vernichtungszug gegen die deutschen Juden das Thema zu einer großen Metapher für die systematische Entwertung der Existenz und das Fanal einer Gegenwehr gegen deren Siegeszug machte.
Vor Lesches Haustür tauchen die ersten Nazi-Parolen gegen ihn auf, den jüdischen Schriftsteller, der sich nie wieder verstecken will. Lesche fliegt in die USA, nach San Francisco, um Material zu dem Armenierthema zu recherchieren, macht auf dem Rückweg einen Stopover in New York, wo er noch mal Gelegenheitsjobs wahrnimmt, um nicht zu vergessen, wie das war, besucht alte Freunde und kehrt nach Berlin zurück. Dort plant er den großen Armenierroman, arbeitet für eine Reportage über die Obdachlosen in Berlin, verliebt sich in eine junge Armenierin und macht den Eindruck, als gelänge ihm die Rückkehr. Doch kurz aufeinander folgende Schlaganfälle werfen ihn aus der Bahn und als er, rekonvaleszent, mit dem Rollstuhl durch sein Viertel fährt, lauern ihm Jungnazis auf und zertrümmern ihm mit einem Baseballschläger den Schädel.
Endstation Berlin liest sich wie die letzte Sequenz des Bewusstseins vor dem Tode, die die verhafteten biographischen Stationen noch einmal Revue passieren lassen. In der burschikosen Finesse, dem humordurchtränkten, unvernichtbaren Lebenswillen des Joseph Leschinsky und seines Weges durch die Romanhandlung zeigt sich die Irreversibilität des bereits Geschehenen. Die Vernichtung, die unsägliche, führt zu keinem Happy End. Auch wenn man sich bei der Lektüre immer wünscht, Lesche möge noch viele Bücher schreiben und auch verkaufen, seine Schelmenstücke fortsetzen und das Glück einer späten Liebe genießen. Das Urteil steht bereits in den längst veröffentlichten Annalen: Brutales Ende, kein Trost!
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2009-09-04)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.