Ein Schelmenroman auf der grausigsten Folie der Weltgeschichte
Edgar Hilsenrath. Der Nazi und der Friseur
Ist das Leben des 1926 geborenen deutschen Juden Edgar Hilsenrath mit den Durchlaufstationen Deutschland, Rumänien, Palästina, USA und wieder Deutschland schon schillernd genug, so ist der 1967 im amerikanischen Exil zum ersten mal erschienene und erst ein Jahrzehnt von deutscher Verlegerseele zugelassene Roman Der Nazi und der Friseur die bis heute unverfrorenste literarische Antwort auf die bisher größte Unverfrorenheit gegenüber der abendländischen Zivilisation. Der heute in Berlin lebende Hilsenrath hat die kritische Distanz des ironisierenden Judentums der größten Verletzung des jüdischen Volkes gegenüber bewahren können und damit nicht wenige Nicht-Juden zum Entsetzen und zur Verständnislosigkeit getrieben.
In seinem weltweit in viele Sprachen übersetzten und millionenfach verkauften Roman geht es um die Geschichte des Massenmörders Max Schulz, der in der Provinz mit seinem Nachbarn Itzig Finkelstein aufwächst. Er lernt beim Vater des jüdischen Nachbarn wie dieser selbst den Beruf des Frisörs, bis auch in diesen Winkel der Provinz die Massenpsychose des Faschismus dringt und alles aus den Fugen geraten lässt. Max Schulz verschlägt es aus Orientierungslosigkeit und Eitelkeit in die SS, er gehört bald den Mordschwadronen in Osteuropa an und entwickelt sich binnen kurzer Zeit zum Massenmörder. Die Finkelsteins werden in einem der Lager, in dem Max Schulz auch Dienst verrichtet, umgebracht. Zu Kriegsende gelingt Max Schulz die Flucht mit einem Karton voller Zahngold aus dem KZ. Mit der Valuta in Berlin angekommen, verschafft er sich die Identität seines ermordeten jüdischen Freundes Itzig Finkelstein, lässt sich eine KZ-Nummer tätowieren und beschneiden. Als Itzig Finkelstein stürmt er auf den Berliner Nachkriegsschwarzmarkt, reüssiert, wird trotz des Reichtums mit den antisemitischen Ressentiments der arischen Kaufmannsmischpoke konfrontiert, verliert bei einer Spekulation alles und macht sich auf den Weg nach Palästina. Dort mündet er als Itzig Finkelstein in eine angesehene bürgerliche Existenz als Frisör und als waffenversierter Kämpfer der israelischen Streitkräfte. Itzig Finkelstein alias der Massenmörder Max Schulz bleibt ein angesehener Bürger des neuen Israel und der Autor Hilsenrath verwehrt es dem wartenden Leser, dass diese blutbesudelte Fälschung eines neuen jüdischen Bourgeois enttarnt wird.
Das Groteske, nie in irgendeiner Form Hinnehmbare des Romans liegt in mehreren kompositorischen und dramaturgischen Griffen, die den Leser aus einem sicher geglaubten Wertekodex herausreißt. Er nimmt als Genre für die grausigste Mordgeschichte der Geschichte den Schelmenroman und entscheidet sich zudem noch wie in der komischen Oper für die groß angelegte Verwechslung der Charaktere. Nur dass hier der Täter zum Opfer wird und in keiner Weise bei der Wahrnehmung der neuen Identität in größere Schwierigkeiten verfällt. Ganz im Gegenteil, selbst die emotionale Welt des Opfers ist dem Täter ganz selbstverständlich affin. Was Hilsenrath hier gewagt hat, ist bis heute einzigartig. Was er wagte, konnte er nur, weil er ein Jude ist. Und er hat gespien auf alle Tabus: Durch den problemlosen Identitätswechsel hat er das Teuflische der menschlichen Existenz per se jedem Volk der Erde zugetraut, auch dem eigenen.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2009-06-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.