Ein Mann namens Harry Haller nimmt sich in einer Stadt ein Zimmer, er raucht und streift nachts umher, man weiss nicht so genau wer er ist, woher er kommt . Er verliebt sich in eine Prostituierte, besucht mit ihr ein magisches Theater und bringt sie schließlich um.
Das ist im Gröbsten die Geschichte die Hermann Hesses Roman „Der Steppenwolf“, zuerst erschienen 1927, erzählt.
Doch die Handlung ist nebensächlich, was zählt ist der Charakter des Protagonisten Harry.
Dieser ist nämlich sowohl Mensch als auch Steppenwolf, ein einsames, umherstreifendes Tier, welches sich durch jeglichen Kontakt zu Gleichartigen bedroht fühlt.
Hermann Hesse verdeutlicht auf eindrucksvolle Art und Weise das Innenleben dieses Wesens, welches zugleich eine endlose Sehnsucht nach der schlichten Geborgenheit des bürgerlichen Lebens als auch einen unüberwindbaren Ekel vor der Einfältigkeit und Oberflächigkeit der gutbürgerlichen Leute empfindet. Jedes Wort erscheint ihm Lüge, jede Gebärde ist ihm versteckte Feindseligkeit. Gefangen zwischen zwei Welten, zerissen von zwei entgegengesetzten Bedürfnissen, der Leser fühlt sich hier stark an die Theorien Freuds erinnert, findet er Ruhe lediglich in Gesellschaft der Prostituierten Hermine. Diese entpuppt sich als eine Projektionsfläche, nicht als eine Seelenverwandte, wie Harry zuerst annimmt. So spricht sie aus, was tief in ihm verborgen liegt und bringt es damit zu Bewusstsein, ohne jedoch eigene Impulse zu setzen, so zum Beispiel als sie seinen Mord an ihr ankündigt.
Der Roman besteht im Wesentlichen aus den Aufzeichnungen des Steppenwolfes, ergänzt noch durch das „Tractat vom Steppenwolf“, einem anonym auf nächtlicher Straße erworbenen Büchlein, welches sich mit Harry befasst und welches ihm als Aufruf in eine andere Welt dient sowie dem Vorwort des fiktiven Verlegers der Aufzeichnungen, welche dazu dienen, einen Einstieg in die Erzählung und eine Außensicht auf den Steppenwolf zu bieten.
Harry Haller wird häufig fälschlicherweise als shizophrener Charakter verstanden, als tatsächlich gespaltene Persönlichkeit. Diese Sichtweise berücksicht allerdings nicht die Erkentnisse des magischen Theaters, in dem Harry angehalten wird, seine eigene Person als Schachspiel mit austauschbarer Besetzung zu betrachten. Harrys Krankheit ist nicht die Shizophrenie, sondern der Glaube an die eigene Gespaltenheit. Ziel der Übung ist es, die Vorstellung von der Kontinuität der eigenen Persönlichkeit abzulegen und die Seele wie den Körper als ein aus Kleinteilen aufgebautes, funktionierendes Ganzes zu betrachten.
Hermann Hesse ist ein großer Künstler psychologischer Erzählung, 1946 erhielt er den Nobelpreis für Literatur, „Der Steppenwolf“ ist sein wohl beeindruckendstes, weil einfühlsamstes Werk.
Doch der Charme des Romans liegt nicht nur in der brillianten Konzeption des Protagonisten Harry Haller, sondern wird durch die Vermischung von fiktiver Realität und doppelter Fiktion mitbestimmt. Wieviel des Geschilderten lediglich in der Gefühlswelt des Steppenwolfes geschieht, was Illusion oder Halluzination und was erzählte Realität ist, wird nicht klar gekennzeichnet. Die Kunst Hesses ist es, diese Unsicherheit als total unwichtig erscheinen zu lassen. Im Mittelpunkt steht die Subjektivität Hallers, welche durch fehlende Wahrheitstreue nicht an Authentizität verliert. Wie oft in der Psychologie zählt die Erlebniswelt mehr als die Realität.
In vielerlei Hinsicht ist „Der Steppenwolf“ ein Roman, der prägt. Das Bild des Steppenwolfes im Menschen bleibt hängen, der Erzähler erfasst hier mit einer Schärfe die Gedanken des Gesellschaftskritikers, mit der sonst keiner sie umrissen hat und die wohl auch keiner überbieten kann.
Haller ist die Personifizierung der Suche nach mehr im Leben, nach der „goldenen göttlichen Spur“, die der Mensch immer wieder zu verlieren verdammt ist, die er also immer aufs Neue suchen und finden muss.
[*] Diese Rezension schrieb: Ragna Quellmann (2008-06-10)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.