Die „größte Metropole Europas“ wie Herzau Istanbul in seinem Vorwort nennt, ist dem Fotografen schon seit den 90ern bekannt, aber besonders die stereotypen Argumente der Politiker über die Türkei veranlassten ihn, sich während der Beitrittsdiskussion selbst die Fragen zu stellen „Was ist eigentlich die Türkei?“ Natürlich sei Istanbul nicht die Türkei, aber zumindest treffe sich hier die Türkei „in all ihren Facetten, mit all ihren Widersprüchen, Chancen und Hoffnungen“. Seine „Fotografie der Straße“ wie er seine Arbeit selbst nennt, sei „ein Spiegelbild der Gesellschaft in der jeweiligen Zeit mit den entsprechenden Protagonisten“. Besonders die Widersprüche und steten Konfrontationsmöglichkeiten überraschen den Fotografen, denn die Stadt funktioniert trotz alle dem friedlich und „reibungslos“.
Als „riesige Matroschka“ bezeichnet die türkisch-stämmige Autorin Elif Shafak das Kleinod am Bosporus. Ein Labyrinth sei sie, ein Spiegelkabinett, die „östlichste aller westlichen Städte“ Europas. Zumindest vier Städte in der Stadt beschreibt Shafak genauer: das Istanbul der Vergangenheit, das Istanbul der Nachzügler, das Istanbul der gebürtigen Istanbuler und viertens das Istanbul der Besucher. Diese vier Aspekte würden sie miteinander verbinden und „die einzigartige Melodie dieser Metropole“ spielen. Das Istanbul der Besucher vergleicht sie dabei mit einem Klavier, das manchmal „alla turca“ und manchmal zu westlichen Melodien spiele. Trotz der vielen Männer sei Istanbul aber auch eine weibliche Stadt. Sie sei wie eine Jungfrau, die schon tausendmal verheiratet gewesen sei, wie eine Witwe und gleichzeitig wie ein junges Mädchen.
Männer in weißen Hemden, die sich Geheimnisse ins Ohr flüstern. Hat man jemals etwas unmännlicheres gesehen? Würde man so etwas in der Machometropole Europas erwarten? Mitnichten! Istanbul ist für alles gut, außer für Klischees und wer den Orient verstehen lernen möchte, der kann ihn in Istanbul wohl so gut wie nirgendwo anders studieren. Wobei die Begriffe Orient und Okzident oder Ost und West natürlich sehr irreführend sind, denn was „typisch orientalisch“ erscheint, wurde in Wirklichkeit eingeführt, um die Bedürfnisse des westlichen Besuchers zu befriedigen und seine Erwartungen zu erfüllen. Voller Überraschungen stecken in jedem Fall die Fotos, die Andreas Herzau von Istanbul gemacht hat und sie bieten alles andere als Klischees. Die angesprochenen Männer in weiß gehören eventuell einer religiösen Verbindung an, die öffentliches lautes Sprechen verbietet. Wer weiß es? Lärmende Männer gibt es in Europa schon genug, in Istanbul können Männer durchaus auch schweigen. Ein anders Bild zeigt eine Frau mit Kopftuch vor einer Hauswand, auf der sich lauter zerrupfte Plakatfetzen befinden. Dekonstruktivismus? Die Vielzahl des kulturellen Angebots in Istanbul zeigt eben auch eine solche Hauswand, auch wenn der Hausbesitzer sie wohl immer wieder herunterreißt. Das Kopftuch steht dazu wohl in einem Kontrast, denn hier klaffen Tradition und Moderne aufeinander wie nirgends sonst.
Herzau zeigt die beiden erkenntnisleitenden Motive der Stadt (Tradition und Moderne) in vielen Aufnahmen, darunter als Spiegelkabinett zwischen Atatürk und der heutigen Türkei, oder als Gegensatz zwischen Kopfhörer-tragendem Jungspunt und Blauer Moschee im Hintergrund. Aber ist dies alles wirklich ein Widerspruch? Gehört nicht das eine zum anderen? Hat nicht auch die Moderne wesentliche Impulse aus dem sogenannten Osten oder Orient bekommen? Man denke nur an das Schießpulver oder den Tabak oder... Andreas Herzau zeigt vor allem auch die Menschen, die in dieser herrlichsten Metropole der westlichen Welt leben. Spaziergänger am Strand ebenso wie Demonstranten am Taksim-Platz oder Tontaubenschützen, die auf Luftballone zielen, um für ihre Liebsten einen Preis zu ergattern. Immer wieder zeigt Herzau auch die Dampfer, Verkehrsschiffe und Verkehrsmittel der Märchenstadt am Bosporus und in seinen Gedanken fährt man heimlich mit, kreuzt zwischen Europa und Asien und wünscht sich ein problemloses, leichteres Leben, als das, was man in Mitteleuropa so zu führen gezwungen ist. Natürlich gibt es auch viel Armut in dieser Stadt, es gibt also mehr als nur die von Elif Shafak angeführten vier Städte, aber selbst die Armut scheint hier leichter erträglich zu sein: man kann ja die Angel auf der berühmten Brücke zwischen Sultanahmet und Galatasaray auswerfen, irgendwas wird schon anbeißen und sei es eine kleine Meerjungfrau, die man mit seinem Macho-Fischer-Gehabe zu beeindrucken gelernt hat. Eine Spurensuche nach dem Vergangenen im Gegenwärtigen und dem Gegenwärtigen im Vergangenen. Wer Istanbul lieben gelernt hat, wird dies wohl noch mehr tun. Wer es noch nicht kennt, wird neugierig werden und seine Vorurteile abbauen. Auch dazu kann nämlich Fotografie nützlich sein.
Die Fotografien sind im Index auch mit Titel aufzufinden, wobei dabei der genaue Ort der Entstehung genannt wird. Außerdem gibt es eine Biographie des Fotografen im Anhang.
Andreas Herzau
Istanbul
Fotobuch
Mit einem Essay von Elif Shafak
(deutsch/englisch)
2010
Hatje und Cantz
ISBN: 978-3-7757-2615-3
29,80.-
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2010-05-12)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.