„Er erwachte morgens mit Kopfschmerzen und hatte Mühe, seinen gestaltlos flackernden Idealismus gegen die Geister der Nacht zu verteidigen. Mit den Jahren wurde er sentimental“, schreibt Herrndorf über seinen Dorflehrer Jean Bekurtz, der ganz am Ende des Romans plötzlich aus dem Nichts auftaucht, so wie der eigentliche Protagonist „Carl“, der Mann mit Amnesie, der kurz zuvor in demselben Nichts verschwand. Wolfgang Herrndorf, der durch einen amüsanten kurzweiligen Roman, „tschick“ (sehen Sie die Rezension dazu auf dieser Buchseite) 2011 positiv aufgefallen ist, schreibt mit „Sand“ einen düsteren ausweglosen Abgesang auf die Zivilisation, oder sollte ich sagen civilisation? Sein neuer Roman, der in einem nicht näher erkennbaren maghrebinischen Land spielt, lässt den Leser rat- und trostlos zurück, da er das, was er zuvor in mühevoller Kleinarbeit errichtet hat, mit einer einzigen kleinen Bewegung aus einer Winchester wieder einstürzen lässt. Natürlich handelt es sich dabei um eine Gewehrkabel, und diese genau zwischen die Augen.
The Good: the conflict
Bisweilen kann man sich sehr gut in die amnesische Hauptperson einfühlen, da auch die Geschichten selbst sehr verwirrend sind und keinen Sinn zu machen scheinen. Doch dann gibt es ein kurzes Aufflackern eines Lichtes am Ende des Tunnels und in jedem Menschen brennt schließlich ein solches Lichtlein. „Father. I feel the good in you, the conflict.“, zitiert Herrndorf Luke Skywalker in einem Dialog mit Darth Vader. Doch dieser erwidert: „There is no conflict.“ Für das Böse gibt es keinen Konflikt, keine Zweifel, keine Gewissensbisse, sondern nur die einfache, bloße Tat. „Carl“ muss dies nicht nur durch einen Wagenheber an der Schläfe schmerzlich spüren, sondern auch durch viele andere Folter- und Verhörmethoden, die aus ihm das herauspressen sollen, was er doch selbst am wenigsten weiß. Selbst seine vermeintliche Retterin Helen, die ihn verwirrt am Wegesrand aufliest und versucht, ihm seine Amnesie so angenehm wie möglich zu machen, entpuppt sich bald als der sprichwörtliche Feind in seinem Bett. Obwohl er eigentlich in ihrem Bett liegt und in seinem eigenen eine Frau und zwei Kinder. Doch das erfährt Carl erst, als ihn auch andere Widersacher festsetzen, um das „Dingsbums“ von ihm zu bekommen.
The Bad: the hunters
Das „Dingsbums“ von dem hier bei Herrndorf die Rede ist, ist nichts Anderes als das was Hitchcock einmal als McGuffin bezeichnet. Es ist letztendlich völlig egal worum es sich handelt, sei es ein Koffer mit Geld oder eine Bleistiftmine, wichtig ist nur, dass die Spannung damit erzeugt wird, die den Zuseher oder Leser an die Handlung bindet. Immer wieder verwendet Herrndorf zur Einleitung seiner über 30 Kapitel Zitate, so wie das oben erwähnte aus Return of the Jedi. Ein weiteres lautet: „I don’t trust him. He likes people, and you can never count on a man like that.“ (Robert Aldrich, Vera Cruz) Diese Zuschreibung trifft ziemlich gut unseren Herrn Carl, der nicht nur harmlos (Helen nennt ihn „Häschen“), sondern geradezu ahnungslos in einen erbarmungslosen Agententhriller stolpert, an dessen Ende nur die Vernichtung aller Beteiligten stehen kann. Motto: Operation geglückt. Patient tot.
The Ugly: Schrödingers cat or the horse of Turin
Auch wenn andere Rezensenten in „Sand“ eine Parodie auf das Genre sehen wollen, bei dem sie sich köstlich amüsiert hätten, geht dem durchschnittlichen Leser ein gut gerüttelt Maß an Scherzen bisweilen ab. Selbst wenn die Rollkragenpulloverträger als Scheißintellektuelle beschimpft werden oder darauf verwiesen wird, dass die afrikanische Seele noch in den Kinderschuhen stecke und mit den Neurosengeflechten einer durchschnittlichen amerikanischen Hausfrau nicht mithalten könne (sic!), fehlt einem doch der Hinweis, an welchen Stellen es hier wirklich etwas zu lachen gibt. Auch die Anspielung auf Nietzsche („Und doch kann uns nichts in der Welt davon abhalten, dem Turiner Kutschpferd schluchzend um den Hals zu fallen“) ist nur ein weiterer Hinweis auf Herrndorfs Belesenheit, nicht aber auf seine Lesbarkeit. So wie dieses Zitat, das Herrndorf ebenfalls anführt: „When I hear about Schrödinger’s cat, I reach for the gun“, soll Stephen Hawking mal gesagt haben. Auch dabei bleibt unklar, ob er es sagte, weil er im Rollstuhl sitzt, oder ob ihn das Experiment wirklich so wahnsinnig macht, dass er am liebsten gewalttätig werden würde. Wenn er es nur könnte. Vor dem Hintergrund des Münchner „Schwarzen September“ (dem Überfall auf das israelische olympische Dorf und seine Sportler) und einer Hippiekommune, aus der ein Geldkoffer verschwindet und vier Leichen zurückbleiben, entfaltet Wolfgang Herrndorf dieses Verwirrspiel um einen Mann ohne Gedächtnis inmitten des Kalten Krieges.
Wolfgang Herrndorf
Sand
Roman.
Rowohlt Berlin
Hardcover, 480 S.
ISBN: 978-3-87134-734-4
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-01-13)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.