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Ulrike Herrmann - Der Sieg des Kapitals
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Herrmann, Ulrike:
Der Sieg des Kapitals

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(Bücher frei Haus)

Ein gut gelungenes Buch mit einem in die Irre weisenden Titel. „Sieg des Kapitalismus“ klingt so ähnlich wie „Niederlage des Kommunismus“ oder „Spitzenanlagen in Fonds“, etwas, was kürzlich wohl passiert ist und von Marxisten gehasst wird. Herrmann sagt: Zum Terminus „Kapital“ haben die Deutschen kein unbelastetes Verhältnis, erst recht nicht zum abgeleiteten Begriff für eine Gesellschaftsform, die ohne manches sein kann, nicht aber ohne ein „Kapital“. In Amerika kann man „capitalism“ wertungsfrei gebrauchen, bei uns bemäntelt man ihn mit windschiefen bis falschen Begriffen wie „(die soziale) Marktwirtschaft“ oder „Liberalismus“. „Warum die letzten 200 Jahre der Menschheit so reich waren wie niemals zuvor - und warum das zu Ende gehen könnte“. Hätte Herrmann ihr Buch so genannt, wäre deutlicher, was hier zu lesen steht.

Ulrike Herrmann ist Wirtschaftskorrespondentin für die taz. Sie tritt beim ARD-Presseclub oder bei Phoenix auf. Herrmann hat Wirtschaftsgeschichte und Philosophie in Berlin studiert, die journalistische Ausbildung bei der Henri-Nannen-Schule bekommen. Zuvor ist sie Bankkauffrau gewesen. Zwischendurch war sie noch Pressesprecherin Krista Sagers, der damaligen Hamburger Gleichstellungssenatorin von den Grünen. Herrmann ist, wen wundert’s, „irgendwie links“, eine ausgemachte Gegnerin der (immer noch herrschenden) neoliberalen Märkte-Selbstheilungs-Ideologie, jedoch alles andere als eine Kommunistin. Ohne Markt, Privateigentum und selbstsüchtiges Gewinnstreben geht’s nicht, auf einen besseren Menschen verzichtet sie.

Dieses „VWL für Dummis“, so könnte man es nennen, aber „für Dummies“ ist das Trademark eines anderen Verlags, liest sich ganz locker und entspannt. Im historischen Rückblick erzählt sie, warum es im Alten Rom siebenstöckige Mietskasernen, Tonwarenfabriken und einen Zinseszins gab, aber dennoch keinen Kapitalismus. Warum das Pro-Kopf-Einkommen in China zwischen den Jahren 450 vor Christus und 1300 besser war als in Europa (das einzige Diagramm des Buchs), es dennoch nie eine Aktiengesellschaft gab und nicht den Handel mit Derivaten. (Ein Derivat ist ein Finanzpapier, das von anderen Finanzpapieren sekundär abgeleitet wird, welche ihrerseits, möglicherweise, irgendwo mit einem realen Geschäft in der wirklichen Wirtschaft der anfassbaren Objekte was zu tun haben, eine Versicherungspolice beispielsweise, eine Versicherung auf den Zahlungsausfall eines Kredits zwischen zwei Vertragspartnern.) Warum China die mächtigste Flotte der Welt besaß und sie eines Tages dann einmottete. Banken gab’s in Florenz in der Renaissance, auch Börsen, wo viel mehr Geld gehandelt wurde, als irgendwo auf der Welt in Goldwerten vorrätig war, dennoch keinen Kapitalismus, schreibt Ulrike Herrmann.

So, wie sie ihn versteht, entsteht Kapitalismus um etwa 1770 in den Textilindustrierevieren Nordwestenglands mit - witzig: ganz wenig Kapital anfangs. Von ihren reichen Verwandten aus der Landedelleuteschicht mussten die Unternehmer es sich borgen. Genau darum, weil die sozialen Standards im bürgerlichen England viel höher waren als irgendwo sonst auf der Welt, weil also die Löhne recht teuer waren, lohnte es sich, größere Summen in die Entwicklung einer kostspieligen Technik zu stecken. Hier nimmt die revolutionäre Verbindung von Finanzen und naturwissenschaftlich-technischer Rationalisierung ihren Ausgang, der die Menschheit ungeheuer vorangebracht hat, der irgendwann aber wird enden müssen, weil der Globus kein endloses System ist. Ohne Wachstum funktioniert Kapitalismus nicht, ewiges Wachstum gibt unsere Erde nicht her.

Sein Schmiermittel Geld vermag der Kapitalismus Tag für Tag neu zu erzeugen. Das meiste Geld entsteht nicht, indem Staaten die Notenpresse anwerfen, sondern wird als Buchgeld von Banken dann geschöpft, wenn sie Kunden für Kreditgeschäfte gefunden haben. Vor Inflation, sagt die Autorin, müssten wir kaum Sorge haben. Das sei ein erklärlicher Albtraum der deutschen Gesellschaft, nachdem zweifach nach verlorenen Krisen riesige Vermögen in Form von Sparbüchern, Anleihen und Renten vernichtet wurden. Viel gefährlicher für die jetzige Zeit bewertet sie die Deflation, die Abwärtsspirale bei Produktions- und Konsumprozessen dieser Tage, wenn jeder meint, sich persönliche Sicherheit für die Zukunft ansparen zu müssen, und viele Unternehmer Investitionen in reale Produktionsprozesse für nicht mehr gewinnversprechend halten. Deflation, die Schrumpfung der Weltwirtschaft, das war schon die Krise nach 1929. Was wir seit 2008 erleben, ähnelt dem stark.

Zwei Missverständnisse ließen Menschen in Jahrhunderten immer wieder zu den falschen Rezepte greifen: Wo es ums Kapital ging, glaubten sie, es mit Geld zu tun zu haben. Wo es Krisen der Volkswirtschaft zu meistern gilt, glauben sie mit den Mitteln der Betriebswirtschaft, die nur fürs einzelne Unternehmen stimmt und auf die gegenseitigen Abhängigkeiten aller wirtschaftlichen Vorgänge eines Kontinents nicht übertragen werden darf, eine Ausweg finden zu können.

Nicht mit Rückzahlung von Schulden sind die überverschuldeten Volkswirtschaften der Mittelmeerstaaten zu retten. Nicht mit „hartem Sparen“, was nichts anderes meint als: „der großen Masse der Unter- und Mittelschicht immer mehr wegnehmen und sie fürs Versagen ihrer Politiker und die Schlauheit der internationalen Finanzmakler die Rechnung zahlen zu lassen“ kann eine Volkswirtschaft aus der Abwärtsspirale gerissen werden. Das sind, wie unverschämt Schäuble und Merkel solche Naivität ihren Wählern seit Jahren auch weismachen mögen, die Lehren der schwäbischen Hausfrau. Das reicht für die Spätzlefabrik in Beutelsbach, nicht fürs globale Finanzstromgeflecht.

Es gibt drei Akteure im Kapitalismus - und nichts kann der eine tun, ohne dass es die anderen beiden nicht irgendwohin treiben würde. Fährt der eine Akteur, der Staat, alle Ausgaben herunter, wie es die Austeritätspolitik von Griechenland verlangte, wie Deutschland es Europa vorexerziert hat mit den Arbeitsmarktreformen, muss einer der beiden anderen, Unternehmen und private Haushalte, (oder beide) mehr springen lassen. Doch werden die privaten Haushalte ja nicht etwa mehr konsumieren in dem Moment, da man ihnen Renten und Arbeitslosenunterstützung wegkürzt. Sie werden sparen. Warum sollte der Unternehmer nun investieren, wenn der Markt doch schrumpft! Er wird ins „Sichern von Rücklagen“ flüchten, nach Anleihen auf dem Finanzmarkt greifen, die ihrerseits aber die Existenz staatlicher Verschuldung voraussetzen, was genau das war, was man den Staaten hatte verbieten wollen!

Schulden, das betont Herrmann oft, man hat ihr Blauäugigkeit angekreidet, was Staatsverschuldung und Inflationsgefahr angeht, Schulden sind nichts Böses im Kapitalismus, sondern notwendiges Zahnrad im Getriebe. Niemand wird ein Vermögen besitzen, wenn nicht irgendwo ein anderer Schulden in ebendieser Höhe hat. Wert ist der Picasso an meiner Wand nur das, was irgendwer für ihn auf den Tisch des Hauses blättert, wenn ich ihn wirklich verkaufen will. Das, mit dem er es dann tut, Geld, ist für sich aber nichts wert. Geld tut nichts, es nährt keinen, es ist Symbol, ein Zeichen für soziale Vorgänge und fürs Vertrauen unter Handelspartnern.

Geld ist Schuldzusicherung: „Ich gebe dir einen Zettel, für den dir jemand anders eine Leistung in dem und dem Wertumfang schuldet.“ Es funktioniert, solange alle dieses Schuldeinlösungsversprechen glauben. Es kann von einem zum andern Tag versagen, wenn keiner es mehr tut. Das Vermögen, das die Reichsten der Welt anhäufen, können sie nicht nur in privaten Konsum und betriebliche Investitionen stecken, sie müssen Anlagepapiere kaufen. Diese sind Schulden, welche Staaten eingehen. Wie oft im Kapitalismus ist alles in Wahrheit ein Schneeballsystem, der ungedeckte Wechsel auf eine bessere Zukunft. Wahrscheinlich werden Staatsschulden nie zurückgezahlt werden, wichtig ist aber nur der Glaube, sie könnten es noch werden - und eine prompte Bedienung mit Zins. Die ganze Zeit sind die verliehenen Beträge allerdings ja doch auch in den Wirtschaftsprozess gelaufen, haben es Alten möglich gemacht, sich Kuchen zu kaufen, Warentransporten, ohne Staus durch die Alpen zu kommen, Zahnärzten, in Urlaub zu fahren und so weiter. Hätten alle drei Wirtschaftspartner darauf bestanden, schwarze Zahlen und nie Schulden zu machen (die ihren Preis kosten, Zinslasten), so hätte keiner einen Vertrag besessen, mit dem ihm versichert worden wäre, der andere werde das und das dann und dann für ihn leisten oder abgeben. Alle Wertanzeiger, Gold und Diamanten ebenso, hätten keinen Wert gehabt. Die gesellschaftliche Entwicklung wäre zum Stillstand gekommen.

Zitat:

Die reine Logik würde also gebieten, dass sich der deutsche Staat stärker verschuldet, wenn private Haushalte und Unternehmen sparen. Doch stattdessen wurde sogar eine „Schuldenbremse“ ins Grundgesetz geschrieben, damit der Staat bloß keine Kredite aufnimmt. In Deutschland spart also jeder: die Bürger, die Firmen und demnächst der Staat. Die Deutschen erinnern an ein Volk von Eichhörnchen, die sich alle einen riesigen Vorrat an Extranüssen anlegen, aber keine essen wollen.

Wie die Banken Geld erfinden, indem sie um ein Vielfaches mehr Geld verleihen, als sie zur Sicherheit besitzen, könnte jederzeit der Staat, der seine Zinsen der Verschuldung nicht bedienen kann, Geld erfinden. Er könnte mehr davon in Umlauf bringen. So wäre die Griechenlandkrise beigelegt, wenn das kleine Krisenland als kranke Zelle einer großen Gemeinschaft aufgefasst worden wäre, wenn ihm die Schulden abgenommen und von den anderen Mitgliedern der Euro-Zone per Anwerfen der Notenpresse den Banken gegenüber abgesichert worden wären. (Was Transfer wie Schuldenschnitt bedeutet hätte, zwei Schreckbegriffe für den Mainstream neoliberal instruierter Medien.) Es würde zu einer gewissen Inflation kommen. Aber es würden optimistische Signale für die Zukunft ausgesendet: Am Mittelmeer kann investiert werden, da wird dann auch Gewinn kommen! Am Mittelmeer steigt die Konsumentennachfrage jetzt wieder.

Auch für Ulrike Herrmann stellen die außer Kontrolle geratenen Finanzmärkte eine große Gefahr dar. Der Crash in absehbarer Zeit sei weiter möglich. Innerhalb von Sekundenbruchteilen werden Unsummen von Geld rund um die Welt verkauft. Die Relation zu greifbaren Produkten in der Wirtschaft der wirklichen Welt ist nicht mehr gegeben. Geld hat seine eigene Fata Morgana von Wachstum und Leistungssteigerung geschaffen. Ob ich einen Stuhl gebaut habe oder nicht, stellt einen Leistungszuwachs in der realen Welt dar. Ob ich zwei Milliarden oder zwei Billionen in Softwareprogrammen verschiebe, schafft zwar keinen wirklichen Nutzen, reißt dennoch alle mit in den Untergang an jenem Tag, wenn einmal alle den Glauben ans Casino der Illusionen verlieren und jeder sich noch schnell zu retten sucht.

Wenn Geld nur herumliegt, ohne seinen Aspekt des Schuldanspruchs ins Spiel zu bringen („Für diesen Zettel werde ich deinen Kindern 3 Stunden Surfen beibringen“), selbstverständlich gilt dies für Wertdepots wie Kunstwerke oder Gold und auch für Immobilien, ist es nur Geld, aber kein Kapital. Von der Einkommenssteuer des Mittelständlers zahlt der Staat den Lehrer, welcher nun seinerseits Schülern Englisch beibringt, außerdem dem Bäcker das Joggingbrot abkauft. Über den Einsatz von Geld hat die Gestalt der Welt sich sichtbar verbessert. Geld, das nur durch Arbitragemärkte zirkuliert, schafft keinen Fortschritt. Allerdings ist dieser Kettenbriefcharakter das immer miteingeschlossene Problem des Kapitalismus‘ gewesen. Irgendwann kann alles als Schwindel zusammenbrechen und alle werden dann in Not gestürzt, die Schuldigen wie die Unschuldigen.

[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-07-15)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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