Die Tausendjährige Geschichte von Byzanz resp. des Oströmischen Reiches wird von der Autorin in vier Teile gegliedert: I. Grundlagen, II. Der Übergang von der Antike zum Mittelalter, III. Byzanz wird ein mittelalterlicher Staat, IV. Die Wechselfälle des byzantinischen Reiches. Insgesamt sind es aber 28 unterschiedlich lange Kapitel, in denen die verdiente Kennerin der byzantinischen Geschichte ihre Schwerpunkte setzt. Durch ihre lange Forschungs- und Lehrtätigkeit an amerikanischen und englischen Universitäten ist sich Herrin den Problemen der Darstellungen der Byzantinischen Geschichte bewusst, besonders dessen, was gerne als Pufferfunktion zwischen lateinischem Westen und islamischem Osten bezeichnet wird. Als unbestritten gilt jedenfalls weiterhin, dass die westlich-latinische Expansion nach Osten durch vier Kreuzzüge auch das christliche Byzanz nicht unbeschadet überstand, denn allzu begehrlich waren die Kreuzritter gegenüber weltlichen Besitztümern und derer hatte Byzanz genug, galt sie doch in der damaligen Zeit als die Metropole schlechthin.
Im Himmel, auf Erden…
Die letztmalige kosmopolitische Bedeutung des byzantinischen Kaisertums legt aber auch Herrin auf das 12. Jahrhundert, denn nicht etwa die Araber oder die Türken hatten dem Byzantinischen Reich den Garaus gemacht, sondern die Glaubenskollegen der westlichen Latiner, die zuletzt beim vierten Kreuzzug 1204 unter dem venezianischen Dogen Enrico Dandolo Byzanz besetzten und… ausplünderten! Von dieser Katastrophe konnten sich die christlichen Herren von Byzanz nie mehr richtig erholen, bis das Reich 1453 tatsächlich den Türken in die Hände fiel und seither Istanbul genannt wird. Im IV. Teil geht Herrin auch auf die latinische Herrschaft von 1204 bis 1263 näher ein. Byzanz war auf seinem Höhepunkt eine funktionierende Stadt mit 400.000 Einwohnern, für damalige Zeiten also eine wirkliche Metropole, deren Vergleich selbst Rom – die damalige Hauptstadt der christlichen Welt – scheuen musste. Die größte Stadt der damaligen Christenheit hatte auch deren größten „Tempel“, die Hagia Sophia, deren kurze zeitgenössische Schilderung durch den Großfürsten Wladimir von Kiew hier nicht unerwähnt bleiben soll: „Wir wussten nicht, ob wir im Himmel oder auf Erden waren. Denn auf Erden gibt es keinen solchen Glanz oder solche Schönheit…Wir wissen nur, dass Gott dort unter den Menschen weilt, und ihr Gottesdienst ist schöner als die Zeremonien aller anderen Nationen“.
Das Erbe in Europa
Wer immer schon wissen wollte, was das griechische Feuer ist, warum die Purpurgeburt so wichtig war, welche Rolle die Frau in Byzanz spielte, wie die byzantinische Tischkultur die lateinisch-westliche beeinflusste und wie sich die byzantinische Gesellschaft von anderen unterschied, wird bei Judith Herrin fündig werden. Zur Orientierung in der reichen Geschichte von Byzanz ist auch eine Tafel der Regierungszeiten der Kaiser beigegeben, sowie diverse Karten sowie ein Register und weiterführende Literatur. „Seine kulturellen und künstlerischen Einflüsse gelten heute als nachhaltiges Erbe für Europa“, schreibt die Autorin im Vorwort, aber auch „grundlegende Aspekte der Staatsverwaltung und Herrschaft wie die Entwicklung des Kaiserhofes mit einem diplomatischen Dienst und einer zivilen Verwaltung, die Krönungszeremonie sowie die Ausübung politscher Macht durch Frauen – all dies sein in Byzanz entstanden, so Judith Herrin. Selbst der typisch italienische Ferragosto – der 15. August – kann indirekt auf einen byzantinischen Vorläufer verweisen. Im Jahre 718 hatten die Byzantiner über die Araber gesiegt und begingen die Feier dafür seither just am 15. August jeden Jahres. Der Fall von Byzanz wird von Stefan Zweig in seiner Kurzgeschichte mit dem 29. Mai 1453 angegeben und allein der Kerkoporta zugeschrieben. 2014 war der 29. Mai Christi Himmelfahrt, es ist aber auch der Geburtstag Oswald Spenglers („Der Untergang des Abendlandes“). Aber solche Zufälle sind natürlich irrelevant.
Judith Herrin
Byzanz. Die erstaunliche Geschichte eines mittelalterlichen Imperiums.
Reclam. Gebunden.
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2014-07-15)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.