Was nicht ganz korrekt ist. Es gab doch mal eine Zeit, da mussten alle guten Storyschreiber der Welt so ähnlich wie Raymond Carver klingen. Das ist der, nach dessen Geschichten der Film „Short Cuts“ gedreht wurde. Er war Alkoholiker und starb am Lungenkrebs mit fünfzig. Er ist sehr gut. Wie man zum Beispiel bei Ingo Schulze nachlesen kann, der auch zu denen gehört, die wie Raymond Carver schreiben mussten. Heute ist das allerdings nicht mehr so in, Carver starb auch schon 1988.
Die Zeit, von der ich spreche, lag ums Jahr 2000 herum, als deutsche Prosaautoren endlich wieder das Weltniveau erstiegen. Man konnte Bücher veröffentlichen, in denen an keiner Stelle Juden, Skinheads, Stasi, Atomkraftwerke, Kriege, gequälte Frauen, vergewaltigte Kinder oder so etwas vorkamen. Es reichte aus, was über ein paar alte Leute zu schreiben - oder die Liebelei auf einer Karibikinsel. Als Deutscher durfte man das jetzt wie alle anderen auf der Welt wieder tun. Eine Bewohnerin in dem amerikanischen Altersheim, das eigentlich ein Billighotel war, hieß Miss Wenders. Nur so als Hommage. Mrs. Carver hätte sie heißen können.
Das Seltsame, wenn man diese Hermann-Storys liest, ist, dass man anfängt über die Besetzung dieser Rollen in der Verfilmung nachzudenken. Man sieht das deutlich vor sich, dies hier ist Moritz Bleibtreu, der dort Daniel Brühl, Johanna Wokalek, August Diehl, Jasmin Tabatabai, Hannah Herzsprung, Andreas Schmidt, Sylvester Groth und so weiter. Man käme nicht auf die Idee, dass man selber in auch nur einer einzigen dieser Storys vorkommen könnte. Man glaubt noch nicht mal, dass Judith Hermann irgendwo da drin ist. Aber diese deutschen Filmschaupieler auf Weltniveau, sie kann man gut erkennen.
Zitat:
Hunter stößt die große Schwingtür mit der flachen Hand auf, die Wärme zieht ihn hinein und nimmt ihm den Atem, auf dem grünen Hotelläufer zeichnen sich schwarze Fußspuren. Er betritt das dämmerige Foyer, dessen mit dunkelroter Seide bespannte Wände, weiche Ledersitzecken und große Kristallleuchter von der Unwiederbringlichkeit der Zeit erzählen, die Seide wellt sich, die Ledersitzecken sind durchgesessen und abgeschabt, in den Leuchtern fehlen die schimmernden, geschliffenen Gläser, und statt zwölf Birnen stecken in jedem nur noch zwei. Das Washington-Jefferson ist kein Hotel mehr. Es ist ein Asyl, ein Armenhaus für alte Leute, eine letzte verrottete Station vor dem Ende, ein Geisterhaus. Es geschieht höchst selten, daß sich ein normaler Hotelgast hierher verirrt.
Hunter stößt die große Schwingtür mit der flachen Hand auf, die Wärme zieht ihn hinein und nimmt ihm den Atem, auf dem grünen Hotelläufer zeichnen sich schwarze Fußspuren. Er betritt das dämmerige Foyer, dessen mit dunkelroter Seide bespannte Wände, weiche Ledersitzecken und große Kristallleuchter von der Unwiederbringlichkeit der Zeit erzählen, die Seide wellt sich, die Ledersitzecken sind durchgesessen und abgeschabt, in den Leuchtern fehlen die schimmernden, geschliffenen Gläser, und statt zwölf Birnen stecken in jedem nur noch zwei. Das Washington-Jefferson ist kein Hotel mehr. Es ist ein Asyl, ein Armenhaus für alte Leute, eine letzte verrottete Station vor dem Ende, ein Geisterhaus. Es geschieht höchst selten, daß sich ein normaler Hotelgast hierher verirrt.
Bis etwa 2003, schreibt Wikipedia, hätten die Absolventen des Deutschen Literaturinstituts Leipzig und des Studiengangs „Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus„ an der Universität Hildesheim diesem „Sommerhaus, später“ in zahlreichen, allesamt ein bisschen weniger erfolgreichen Storysammlungen nachgeeifert. Schon Judith Hermann hatte es allerdings von jemand anderem abgeschaut. Man verfasse eine im Großen und Ganzen knappe und spartanische Gegenwartsgeschichte. Man scheue unbedingt jeglichen Ansatz einer Erklärung, was es wohl aussagen, bedeuten könnte. Statt dessen platziere man mal hier, mal dort äußerst fein beobachtete Details im Text (Stichwort: Kameraauge).
Gut. Kann man so machen. Aber man wird dann leicht misstrauisch, wenn (ohne Bemerken seitens des Lektors) von einer Sängerin namens „Polly Jane Harvey“ die Rede ist, die in der Wirklichkeit aber Polly Jean Harvey heißt. Man kann den Irrtum verschmerzen, denn diese Dame pflegt ja sowieso immer nur abgekürzt „PJ Harvey“ genannt zu werden, so steht’s sogar auf ihren Platten. Dennoch, dieser Autor, der jede Winzigkeit wahrnehmen kann, hätte der etwas so Offenkundiges denn nicht sehen müssen?
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2014-10-06)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.