Mit den beiden Erzählungsbänden „Sommerhaus, später“ (1998) und „Nichts als Gespenster“ (2003) katapultierte sich die damals noch sehr junge Judith Hermann nicht nur in die Herzen des Feuilletons, sondern auch in die einer großen Zahl von Lesern: Leser, die üblicherweise lieber zu Romanen greifen und die literarische Qualität von Erzählungen selten zu schätzen wissen.
Ich selbst habe zum ersten Mal etwas von Judith Hermann gelesen, als ich 2009 ihren dritten Erzählungsband Alice las und auch rezensierte. Sehr enttäuscht habe ich damals resümiert:
„….sonst wird von dieser schemenhaften Frau nichts deutlich. Dort, wo sie hinkommt, herrscht der Tod, dem sie nicht ausweicht, mit dem sie sich aber auch nie wirklich auseinandersetzt. Da ist keine Trauer spürbar, keine Wut, kein Aufbegehren gegen ein unerbittliches Schicksal. Nein, da wird anekdotenhaft ein Tod an den anderen gereiht und am Ende fragt man sich, aus was das Leben dieser nun um fünf Männer ärmeren Frau besteht, Männer, die sie aber nicht zu vermissen scheint.
Und so plätschern die in teilweise sehr knappen Sätzen verfassten Geschichten an einem vorbei und hinterlassen einen schalen, einsamen, seltsam melancholischen Eindruck, ohne jedoch in der Lage zu sein, ein einziges wirkliches Gefühl hervorzurufen.
Ob Judith Hermann beim Schreiben Gefühle hatte? Man wünscht sich, nach nunmehr drei Erzählungsbänden einmal einen Roman, in dem die mittlerweile Vierzigjährige ein Thema aufgreift, das einen wirklich angeht.“
Man kann sich deshalb vorstellen, wie gespannt ich auf den hier vorliegenden Roman war. Judith Hermann hat sich daran an ein Thema gewagt, das in den letzten Jahren für immer mehr Menschen, vor allem Frauen von einer schmerzhaften und dramatischen Aktualität geworden ist, dem Stalking und wie es nicht nur die gestalkte Person betrifft, sondern auch ihr persönliches Umfeld.
Stella ist eine junge Frau und hat einen befriedigenden Beruf als Pflegerin alter Menschen. Sie ist verheiratet mit Jason, einem Mann, den sie unspektakulär in einem Flugzeug kennengelernt hat und der immer wieder für viele Tage auf Montage fährt. Dann ist Stella mit ihrer kleinen Tochter Ava allein in ihrem schönen Haus am Rande der Stadt.
So wie sich Stella und Jason kennengelernt haben, verläuft auch ihr Leben. Zufrieden, ökonomisch abgesichert, aber ohne große Höhepunkte.
So lange, bis eines Tages ein Mann an ihrem Gartentor steht, nachdem er geklingelt hat: Er sagt durch die Sprechanlage: „Guten Tag. Wir kennen uns nicht. Sie kennen mich nicht. Ich kenne Sie aber vom Sehen, und ich würde mich gerne mal mit Ihnen unterhalten. Haben Sie Zeit.“
Stella wehrt erschrocken ab. Nein, sie habe keine Zeit, auch morgen nicht. Doch das, was der Stalker als ersten Schritt beabsichtigt, ist schon geschehen. Er hat sich in die Gedanken seines Opfers eingeschlichen und lässt es nicht mehr los. Zumal er in den nächsten Tagen immer wieder kommt, klingelt, etwas in den Briefkasten wirft und dann wieder geht. Er stellt sich schriftlich als Mister Pfister vor und wohnt nur einige Häuser weiter in der Nachbarschaft.
Stella erzählt ihrer Freundin Clara am Telefon davon. Auch Jason weiht sie ein. Doch alle Ratschläge helfen ihr nicht wirklich weiter. Als eines Tages Jason einen Brief von Mister Pfister aus dem Briefkasten holt, ihn liest und sie auffordert es auch zu tun, da passiert in ihrem Kopf etwas, wovon viele Opfer berichten: sie versucht zu verstehen:
„Sie sieht Jason an und fragt sich plötzlich, ob es nicht doch möglich wäre, Mister Pfister zu verstehen. Für Jason vielleicht unmöglich, für sie aber möglich? Sie versteht Dermot, sie verseht Julias endgültiges Schweigen, sie versteht Esthers Gereiztheit und Walters undeutliches Sprechen (ihre Patienten und deren Angehörige,d.R.), sie versteht doch dieses und jenes, vielleicht sollte sie sich einfach auf Mister Pfisters Gedankenwelt einlassen? Auf die Andeutungen, auf den Chor der Stimmen, der aus dem Karton (in ihm hat sie alle Botschaften Pfisters gesammelt) heraus zu vibrieren scheint. Um zu wissen, wie Mister Pfister tickt, wie er funk-ti-o-niert.“
Sie meldet das Stalking der Polizei und holt sich Rat bei einem älteren Mann, der ihr Fahrrad repariert und direkt neben Mister Pfister wohnt. Doch alles hilft nicht wirklich weiter. Mister Pfister setzt sein Stalking fort, spricht Ava in der Schule an und will Stella zur Pflege seiner Mutter beim Pflegedienst buchen, bei dem Stella arbeitet.
Eine Lösung kommt erst ganz am Ende durch Jason, von dem man es niemals erwartet hätte. Während Stella eher passiv alles über sich ergehen lässt, wählt er eine radikale Lösung. Und öffnet so seiner Liebe zu Stella einen neuen Anfang ….
Mit einer knappen und dennoch reichen und schönen Sprache hat Judith Hermann die Klippe des ersten Romans souverän gemeistert. Man mag kritisieren, dass ihre weibliche Protagonistin (wieder einmal?) eher passiv als aktiv ihr Leben lebt, doch das Ende des Romans, Hermanns radikale Lösung des Problems provoziert. Es hat mir nicht nur gefallen, sondern mich als Leser regelrecht befreit.
Judith Hermann, Aller Liebe Anfang, S. Fischer 2014, ISBN 978-3-10-033183-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-08-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.