Der Autor dieser vorzüglichen und exquisiten Lektüre hat sich gewissermaßen die Perlen der europäischen Literatur herausgepickt und sie auf ihren Erkenntniswert überprüft. Dabei lag ihm vor allem am Herzen zu zeigen, dass große Werke auch auf Kosten der Gesundheit des Schaffenden gehen. Und auch, dass man schon vorher ein Talent haben muss und es nicht durch Rausch oder Sucht kreieren oder erwecken kann. „Schwarze Diamanten“ heißt seine Einführung in die Literaturgeschichte vom Wasser her: „Die Realität hält nicht ein, was der Traum verspricht. Also `muss´ (kursive Hervorhebung durch Autor, JW) sie überschritten werden. (...) Der Körper, das schwerfällige Tier, verweigert (aber, JW) den Grenzübertritt. (...) Der Körper hält den Anforderungen des Geistes nicht stand und wird wie ein Ackergaul zu Tode geschunden.“ Ist Sucht und Missbrauch des Körpers eine unabdingbare Voraussetzung, um zur wahren Erkenntnis zu gelangen?
Das hier auch im Vorwort Angesprochene trifft wohl auf die gesamte in diesem Buch versammelte Dichteravantgarde zu: Weder Balzac, Baudelaire, Rimbaud noch Maupassant, Poe, Nietzsche oder Strindberg kamen mit dem Leben wirklich gut zurecht. Sie seien im praktischen Sinn „Gescheiterte“, schreibt Herbig, und weiter: „Der Fühlende ist meist der Leidende. Der Denkende der Ratlose. Als klaffe ein Abgrund zwischen Mensch und Welt. Als wäre die Macht des mächtigsten Tieres ein Widerspruch zur Natur“. Alles was wirklich schön ist, sei unweigerlich mit Schmerzen verbunden, so wie die Rose ihre Dornen hat, hat das Wahre seinen Fluch.
Bei Balzac war es nur der Kaffee. Er hatte früh begriffen, dass der Traum ein „Motor des Lebens“ sein müsse, nicht das Leben selbst. Sein Tagesablauf sah dementsprechend fleißig aus: Balzac ging um sechs oder sieben abends zu Bett, stand um ein Uhr nachts auf und arbeitete bis um acht. Dann schläft er eineinhalb Stunden, isst eine Kleinigkeit, trinkt eine Tasse Kaffee und „schirrt sich wieder an seinen Karren bis um vier“. Zwei Stunden bleiben für Besuch oder ein Bad, danach legte er sich wieder hin um nachts um eins wieder die Arbeit aufzunehmen. Diese „eine Tasse Kaffee“ war natürlich eine herrliche Untertreibung: es sollen 50.000 Tassen in nur 20 Jahren gewesen sein, also 6-7 Tassen täglich von einem Sud, der nur wenig mit unserem heutigen Filterkaffee zu tun hat, zumal Balzac seinen Kaffee gerne mit etwas Bourbon, Martinique und Tanin korrigierte. . „Die Destillation des Geistes“, vermerkt Herbig, „setzt die Verbrennung des Körpers voraus. `Das´ ist die Tragödie Balzacs.“
Und Baudelaire? „Berauschet Euch!“ hatte er gefordert und die Worte folgen lassen: „Um die grässliche Last der Zeit nicht zu spüren, die euch die Schultern zerbricht und zur Erde zieht... Berauschet Euch, um nicht zu gefälligen Sklaven der Stunde zu werden“. Bei Herbig wird aber weniger der Drogensüchtige, als der Onanist Baudelaire gezeigt, den er dem Päderasten Oscar Wilde (O-Ton Herbig) gegenüberstellt. „Ein gewisser Kultus mit sich selber“, definierte Baudelaire den Dandy, „der jeden Versuch, das Glück in anderen, in einer Frau zum Beispiel, zu finden, und alles übrige was man Illusion nennt, überwundenen hat“. Man könne folgerichtig den Exzess als weder teilen noch mitteilen. Er sei ebenso einsam wie die Onanie und diese arbeite wenigstens geistig. Dadurch erspare sich der Onanist auch die Ent-täuschung, denn laut Baudelaire ernüchtere schon die Nacktheit. Sie entspreche nicht annähernd den Versprechungen einer entblößten Schulter, eines Dekolletes oder der Fesseln. Die sexuelle Distanz, beschwöre eine Vorfreude auf etwas, das `so´ nie eintreten wird. „Ficken“, habe Baudelaire geschrieben, hieße in einen anderen einzudringen, „ein Künstler gehe aber niemals aus sich heraus“. Beischlaf sei also nur ein ungenügendes Surrogat der Onanie und nicht umgekehrt. Die Ent-täuschung ist also nichts anderes als das Aufdecken einer Täuschung, eine Demaskierung, da bliebe man doch besser gleich unter sich und bringe die Phantasie auf Hochtouren. Diese könne wohl kaum enttäuschen. Allzu wörtliche dürfte er seinen eigenen Erkenntnisse aber nicht genommen haben, denn der „Onanist“ Baudelaire starb an der Geschlechtskrankheit Syphillis, die ihn faktisch verstummen liess. In den letzten beiden Lebensjahren brachte er nur mehr das Wort „Crenom!“ (dt.: „Herrgottsakra!“)
hervor, halb Fluch, halb Gebet: „Sacre nom de Dieu!“
„Der Rausch meint nur das Hier und Jetzt.“, schrieb ein Anderer. Und dieser andere, der nicht sich selbst sein wollte, war Arthur „Ich-ist-ein-Anderer“ Rimbaud. „Er (der Traum, JW) sucht kein neues, kein anderes Leben und begnügt sich mit der zeitweiligen Flucht.“ Auch wenn Baudelaire noch behauptet hatte, man sei im Rausch kein anderer, sondern beschwöre lediglich die Kräfte, die in einem schlummern, hat Rimbaud anderes beherzigt: „Ich habe Gift genommen, genug, um einen Elefanten zu fällen. Dreimal gesegnet sei der Gedanke, der mich zu dieser Tat trieb.“ Nicht nur an dieser Stelle ist Rimbaud auch blasphemisch, er lastet sein ganzes Unglück seiner Taufe an, denn „den Heiden kann die Hölle nichts anhaben“, sie wüssten ja nichts von ihr. Unschuldig wurde er geboren, doch vor seinem Tod wollte er dafür nicht büßen müssen.
Der Rausch, die Sucht und die daraus folgende Erkenntnis der Exzessiven wird noch mit anderen Beispielen fortgesetzt (Maupassant Poe, Nietzsche und Strindberg) und diese Art der literaturwissenschaftlichen Hintertreppe erweist sich um vieles lesenswerter als so manche integre Biographie. Abwechslungsreich, mutig und unterhaltend: so wünscht man sich nicht nur das Leben, sondern auch so manche Lektüre. Heinz-Dieter Herbig ist dies zweifellos gelungen und ich kann dieses kurze, aber äußerst interessante Buch jedem empfehlen, der etwas auf sich hält: man muss kein Dandy sein, um das zu tun.
Heinz-Dieter Herbig
Die Exzessiven
Rausch, Sucht, Erkenntnis