Wie schon im Vorgängerwerk der Trilogie, "Bagage", und dem Nachfolger "Löwenherz" geht es auch in "Vati" um die autobiographische Geschichte der Familie der Autorin, die sie mit viel Zärtlichkeit und Einfühlsamkeit erzählt. In "Vati" enthüllt sich auch die Liebe zur Literatur, denn ihr Vater war ein Literaturliebhaber mit einer "zusammengeraubten" Bibliothek. Selbstverständlich schließt Autobiographie Ironie nicht aus.
Kindheit und Jugend
Denn Monika Helfer hat sehr viel von dieser Selbstironie und einer alemannischem Humor, der einem auch dieses Werk ihrer Trilogie ans Herz wachsen lässt. Mehr noch natürlich ihren Vater, ein Mann mit Beinprothese, ein Abwesender, ein Witwer, ein Pensionär, ein Literaturliebhaber und Bibliothekar im Kriegsopfer-Erholungsheim in den Bergen auf der Tschengla. "Wenn du dir eine Bibliothek anschaust, kannst du alles über den sagen, dem sie gehört", sagte ihr Vater zu ihr als Kind, verriet aber nicht, dass es gar nicht seine Bibliothek war, die er ihr hier mit einer großen Geste zeigte. "Erst dort, im Paradies, dämmert mir, dass ich jemand war -jemand, der `ich´ sagen konnte", schreibt die Autorin schlussfolgernd über ihre Kindheit oben in den Bergen, das sie gerne als "Paradies" betitelt. Denn die meiste Zeit des Jahres waren sie dort oben alleine, nur die Familie, keine Gäste und keine Kriegsopfer. "Entweder das Haus war voll oder leer. Voll im Sommer, Juni, Juli, August und im Frühling zu Ostern, in der Karwoche, darüber hinaus bis zum Weißen Sonntag. Sonst war das Heim leer. Zwei Drittel des Jahres wohnten nur wir hier, Vater, Mutter, Gretel, Richard und ich (...)." Schon früh hegte damals die kleine Monika den Wunsch, dass einmal ihr name auf einem Buchrücken prangen würde und als es dann so weit war, wollte sie es als erstes ihrem "Vati" zeigen. Ihr Vater hatte sie zu seiner "Kumpanin" gemacht, ihr anvertraut, dass er sich immer noch aufhänge könne, "wenn alles schiefgeht". Frei nach Nestroy: "Wenn alle Stricken reißen, häng ich mich auf".
Das Paradies: 1220 Meter über dem Meer
Mit 25 hatte man ihm das Bein abgenommen. Wegen Wundbrand. Der Krieg war schuld. Und je schlimmer das war, das jemand erlebt hatte, desto weniger konnte er darüber sprechen. Das sagte ihr Tante Irma auch über ihren Vater. Aber eine andere Tante, die Kathe, sagte ihr noch etwas viel wichtigeres: "Es geht niemand verloren." Dieser Satz tut ihr heute noch wohl und sie sagt ihn sich leise vor, wenn wieder etwas Schreckliches oder Unvorhergesehenes passiert. "Manchmal, wenn mir irgendetwas eine Enge in der Brust macht, sage ich den Satz leise vor mich hin und versuche, Tante Kathes Stimme nachzumachen.", schreibt die Autorin, die wahrlich viel mitgemacht hat in ihrem familiären Leben, das wissen wir auch von den anderen beiden Romanen ihrer Trilogie. An vielen interessanten Dingen lässt uns die Erzählerin teilhaben und geizt nicht mit Wahrheiten über das Leben, die man sich vielleicht auch ins Stammbuch schreiben könnte. Als ihr Vater von den Hauptstädten der Welt erzählt wissen sie alle: "Das Paradies waren sie nicht, das waren oben, 1220 Meter über dem Meer, für uns nicht mehr erreichbar." Den unerschöpflichen Schatz der eigenen Kindheit und Jugend hat sich Monika Helfer behalten und sich erinner, wie es war oder vielleicht auch nur gewesen sein könnte. Als ihr Vater mit nur 67 Jahren stirbt, stirbt er einen Tod, der jedes Bibliothekars würdig gewesen wäre. Autofiktion mit großem Einfühlungsvermögen und einer bestechenden Sprache und Erzählkunst. So stellt man sich Literatur vor. Es geht niemand verloren. Danke für's Teilen.
Monika Helfer
Vati. Roman
2022, 1. Auflage, Paperback, 176 Seiten
ISBN : 978-3-423-14843-6
dtv
11,00 €
[*] Diese Rezension schrieb: Juergen Weber (2024-07-09)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.