Der neue Roman von Christoph Hein ist, das sei schon ganz zu Anfang gesagt, ein großes Buch, ein Werk, das fast ein ganzes Jahrhundert umspannt und eine bewegende Geschichte erzählt vom Leben und Sterben unter den extremistischen Bedingungen der weltpolitischen Konstellationen des 20. Jahrhunderts.
Der Roman beginnt im Frühjahr 2003, als Christoph Hein an einer Diskussionsveranstaltung zum Hitler-Stalin-Pakt in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur teilnimmt, in dem die stellvertretende Direktorin des Bundesarchivs referiert. Er hat an diesem Thema eher weniger Interesse, sondern hofft, die Referentin abseits der Veranstaltung zu einem Thema zu befragen, zu dem er seit einem Jahr recherchiert, dem GSG-9-Einsatz in Bad Kleinen am 27. Juni 1993, der sich zu einer regelrechten Staatskrise mit Rücktritten etc. auswuchs.
In seinem 2005 erschienen Roman „In seiner frühen Kindheit ein Garten“ hat Christoph Hein diesen Einsatz und seine Folgen einer „Staatskrise bisher ungekannten Ausmaßes“ für die Bundesrepublik (so der RAF- Biograph Butz Peters) literarisch verarbeitet.
Doch das, was er während der schon erwähnten Veranstaltung erlebt, hat Hein nicht vergessen und nach ausgiebigen Recherchen über 10 Jahre später zu einem Roman verarbeitet. Während des Vortrags der Referentin des Bundesarchivs erhebt sich ein älterer Mann im Publikum, und weist ihr alle möglichen Fehler nach, ohne dass ersichtlich wäre, dass er sich auf irgendwelche schriftlichen Unterlagen bezieht.
Hein fällt das auf, und er spricht den alten Mann in der Garderobe an. Der stellt sich vor als Maykl Trutz, benennt die Mnemonik als Ursache seiner Erinnerungsfähigkeit und bietet dem Schriftsteller an, ihm bei weiteren Gesprächen mehr davon zu erzählen. Acht solcher Besuche gab es, und jedes Mal spricht Maykl Trutz genau vier Stunden lang.
Christoph Heins Roman Überspannt eine Zeit zwischen dem Berlin der 1920er-Jahre, über das Moskau der Kriegs- und Nachkriegsjahre, über sibirische Straflager bis hin zum heutigen Berlin, in dem sich die Söhne der Familien Trutz und Gejm wiederbegegnen, und auch Hein durch die Begegnung mit Maykl Trutz und die Gespräche mit ihm erst jenen Stoff erhält für sein Buch, für das er viele Jahre vor allem in russischen Archiven ein intensives Aktenstudium absolvierte.
Die Geschichte beginnt mit Rainer Trutz, dem Vater von Maykl, der aus der Provinz und einem engen Elternhaus in das Berlin der 20-er Jahre flieht und durch einen Zufall jene Russin Lilija Simonaitis, Mitarbeiterin der russischen Botschaft, kennenlernt, die dem angehenden Schriftsteller nicht nur die Türen zur Berliner Gesellschaft öffnet, sondern auch später in der Sowjet lange zu einer Helferin und Unterstützerin der Familien Trutz wird, bis sie selbst in die grausamen Mühlen der Stalin`schen Säuberungen gerät.
Nachdem der erste Roman von Rainer Trutz, ein frivoles Erstlingswerk, einiges Aufsehen erregt, gerät er mit seinem zweiten Buch in das Viser der Gestapo und flieht mit Hilfe von Lillija mit seiner Familie nach Moskau.
Doch dort im als sicherer Ort phantasierten Exil warten herbe Enttäuschungen auf sie. Rainer Trutz begegnet dort Waldemar Geijm, einem Professor für Mathematik und Sprachwissenschaften an der Lomonossow- Universität, der ein neues Forschungsgebiet begründet, wobei er sich auf alte Vorgänger beruft: die Mnemotechnik, die Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung. Dieser Prof. Geijm, der bald in Ungnade fällt und später in einem sibirischen Arbeitslager stirbt, unterrichtet mehrere Jahre seinen eigenen Sohn und den Sohn von Rainer Trutz, den kleinen Maykl in dieser Technik, deren Kunst Christoph Hein dann über sechs Jahrzehnte in Berlin bestaunen sollte.
Auch Rainer Trutz, der die harte Arbeit als Pionier beim U-Bahn-Bau in Moskau einigermaßen überlebt, wird nach dem Krieg plötzlich denunziert. Eine alte Rezension, die er noch in Berlin schrieb und in der er sich lustig machte über die Lobhudelei einiger berühmter Schriftsteller, die die Sowjet als Paradies darstellten, wird ihm zu Verhängnis. Er kommt in ein Besserungslager im Ural und wird dort von einem Wärter erschlagen.
Auch Maykl und seine Mutter werden drangsaliert, und als Gudrun stirbt, geht er in die DDR. Doch auch dort wird er drangsaliert und versucht als Archivar zu überleben. Nach der Wende wird er Gem, den Sohn von Professor Geijm wiedertreffen und sie stellen fest: sie haben fast dieselben Erfahrungen gemacht wie ihre Väter.
Am Beispiel zweier Familien hat Christoph Hein ein Jahrhundert der Diktaturen wieder aufstehen lassen und lebendig gemacht. In einer Zeit, in der die jüngeren Generation auch von intellektuell geprägten Menschen kaum noch etwas wissen über diese Zeit, ist es sehr zu begrüßen, dass und wie Hein dieses Jahrhundert verstehbar und auch erlebbar macht, am Schicksal realer Menschen.
All das, was im Maykl Trutz in den vielen Gesprächen nicht erzählen konnte, weil er es nicht wissen konnte, hat Hein in endloser Recherchearbeit in zunächst verschlossenen Archiven gefunden.
Er hat es zu einem beeindruckenden literarischen Werk verarbeitet, das einen Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2017 verdient hätte.
Christoph Hein, Trutz, Suhrkamp 2017, ISBN 978-3-518-42585-5
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2017-05-22)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.