Man könne in der Kunst durchaus ein probates „Mittel zur Beherrschung und Unterjochung der Wirklichkeit“ erblicken, oder sie als ein „Organ zur Hingabe an die Natur“ erleben. Der Paläsolithiker habe noch gemalt, was er wirklich gesehen habe, nicht mehr als er in einem bestimmten Moment mit einem einzigen blich erfassen konnte. Das gemalte Bild sei damals eine „Falle“ gewesen, in die das Wild gehen musste, das Bild war Darstellung und Dargestelltes, Wunsch und Wunscherfüllung in einem.
Tötung in effigie
Nichts berechtige uns einen anderen Zweck anzunehmen, als dass Kunst Mittel einer magischen Praxis war, die auf unmittelbare wirtschaftliche Ziele gerichtete Funktion hatte: die Lebensfürsorge. Ein Bild war also die Vorwegnahme es erwünschten Effekts. „Von einer dekorativen Absicht“, schreibt Hauser, „oder einem ästhetischen Ausdrucks- und Mitteilungsbedürfnis konnte hier (in der Höhle, JW), wo die Darstellungen eher berobrgen als zur Schau gestellt waren, keine Rede sein.“ Der „Glaube“ aber habe eigentlich erst mit der Seßhaftigkeit begonnen. „Erst mit der Pflanzer- und Viehzüchterkultur beginnt der Mensch sein Schicksal von einsichtigen, einen Ratschluß befolgenden Mächten gelenkt zu fühlen. Mit dem Bewußtsein der Abhängigkeit von Wetter und Unwetter, Regen und Unfruchtbarkeit der Erde, Ausgiebigkeit und Notdürftigkeit der Würfe ensteht die Vorstellung von allerhand Dämonen und Gesiter, die Segen und Flucht austeilen.“ Die Vorstellung von etwa Unbekannten, Geheimen, Übermächtigen und Ungeheuren des Überweltlichen und Numinosen. Des Religiösen.
Olympia: Zentrum der Propaganda
Die Entstehung eines Priesterstandes, der sich diesen oben genannten Dingen widmet, zeige aber auch den Fortschritt einer Gruppe. Denn wer sich diesen Luxus der Existenz von Müßigen leisten könne, ist als Gesellschaft durchaus als fortgeschritten zu bezeichnen. „Und so waren wohl auch die Priester die ersten regelmäßigen Auftraggeber für Kunstwerke“, schreibt Hauser bilanzierend. Und bei dieser Kunst ging es vorerst vor allem um Heilssicherung und Ruhmverleihung, aber auch den Totenkult. Das konservative Ziel dieser Idee war wiederum die Machterhaltung. Kunst kann also durchaus als Propaganda betrachtet werden. In der Antike diente Kunst dann vor allem der Ruhmsucht des kriegerischen Adels: „Der Barde war der Ruhmverkünder der Könige und ihrer Vasallen, der Rhapsode wird zum Panegyriker der nationalen Vergangenheit.“ Olympia war die wichtigste Propagandastelle der Griechen, „wo die öffentliche Meinung des Landes und das nationale Einheitsbewußtsein der Aristokratie geformt wurde“. Arete und Klokagathie oder auch Sophrosyne waren die Folgen.
Der Soziologe der Kunst
Arnold Hauser (1892-1978), der erste wesentliche „Soziologe der Kunst“, ist ein Wegweiser durch das Labyrinth der Entwicklung der Kunst. Die vorliegende Sozialgeschichte der Kunst und Literatur stellt soziologische Fragestellungen und überträgt sie auch auf andere Disziplinen. Hauser beschäftigt sich in vorliegender Publikation also nicht nur mit der Entwicklung von Kunst, Literatur, Musik, Theater und Film, sondern auch deren sozialen Hintergründen: Vom antiken Theater als Propagandainstrument über das Bildungsmonopol der mittelalterlichen Kirche, den sozialen Ursprung des Humanismus, die wirtschaftliche Lage der holländischen Maler und Tolstois politischer Weltanschauung bis hin zum Materialismus des Films.
Andreas Hauser
Sozialgeschichte der Kunst und Literatur
2018, 71. Tausend der Gesamtauflage, 1136 S., Hardcover
ISBN: 978-3-406-72109-0
C.H. Beck
39,95
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2019-12-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.