„Letatlin“ war eine Art „Luftfahrrad“, die der Künstler Vladimir Tatlin, schon in den Zwanziger Jahren entwickelte. Er leitete die bionische Form seines Flugapparates von Kranichen und Möwen ab, die er als Matrose beobachtet hatte. „Die Idee des individuellen Fliegens beschäftigte Tatlin (…) als poetisches Ideal für eine fliegende Skulptur, als `escape vehicle´ im Sinne von Velimir Chlebnikovs Universal-, Vogel-, und Sternensprache `Zaum´, als anarchistisches Instrument individueller Befreiung, und materiell als technische Herausforderung für ein praktisch einzusetzendes Luftfahrrad.“, schreibt Roland Wetzel in seinem Beitrag zu vorliegendem Werk, das sich ausschließlich dem Werk des russischen Avantgardisten widmet.
Der Künstler und die Avantgarde
Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin (1885–1953), der zunächst als Maler begann, entwickelte bald Konterreliefs, räumlich-plastische Konstruktionen aus Holz, Metall, Glas, Farbe, Asphalt und Seilen. Sein visionäres Projekt, der Turm zur Propagierung der Ideale der Russischen Revolution, der 400 m hoch sein sollte und den Titel „Monument der Dritten Internationale“ (1919) trug, wurde nie verwirklicht und prägte doch Generationen von Architekten, bildenden Künstlern und Schriftstellern. Allein das Modell soll 5 Meter hoch gewesen sein, aber es gilt bis heute als verschollen. Die Undurchführbarkeit der Verwirklichung des Monuments gilt vielleicht auch als Metapher für das Scheitern der Revolution von 1917, die zwar nicht an finanziellen Quellen scheiterte, aber vielleicht doch an einem ähnlichen Illusionismus. Allein was gilt ist die Vision, denn die ging tatsächlich in die Geschichte ein, obwohl das Projekt nie verwirklicht wurde.
Kunst nicht als Spiegel…
„Die Revolution fördert die Erfindungsgabe“, soll Tatlin einmal gesagt haben und sicherlich hat er einen Großteil seines Erfolges der Oktoberrevolution zu verdanken. So interpretiert auch David Walsh in „Die linken Künstler und die Oktoberrevolution“ Tatlins unglaubliches Werk. Er sei der erste Künstler gewesen, der sich bei der Sowjetmacht zur Arbeit gemeldet habe, soll Tatlin später über sich selbst gesagt haben und das illustriert eindeutig seine eigene Position in der Revolution. Seine kreativsten Jahre fallen sicherlich in die Zeit der Zehner und Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts, während in der Zeit der „stalinistischen Konterrevolution“, wie Walsh die Herrschaft Stalins nennt, Tatlin viel weniger aktiv war. „Erfolg“ habe er freilich nie gehabt. Weder mit seinem Turm, seinen selbst entworfenen Kleidern, noch mit seinem Flugapparat. Doch Tatlin – der anders als etwa Rodchenko weiterhin an die Kunstproduktion glaubte - bekam unerwartete Schützenhilfe von Trotzki, der in „Literatur und Revolution“ über die „neue“ Kunst schrieb: „Die neue Kunst ist kein Spiegel, sondern ein Hammer, sie reflektiert nicht, sondern gestaltet um.“
…sondern als Hammer
Wer Kunst als Mittel der Gestaltung ablehnte, würde der neuen Gesellschaft ein „Werkzeug von allergrößter Bedeutung“ entwenden, so Trotzki. Als der stalinistische Terror auch unter den Künstlern wütete schrieb derselbe exilierte Trotzki: „Hervorragende Künstler enden entweder mit Selbstmord, suchen ihren Stoff in zurückliegenden Zeiten oder schweigen.“ Tatlin hatte sich für letzteres entschieden und dadurch immerhin bis 1953 überlebt. Die Bedeutung seines bildhauerischen Werkes für die Russische Avantgarde hat etwa denselben Stellenwert wie Kasimir Malletwitschs „schwarzes Quadrat“ (1915), das in Moskau in der Tretjakow-Galerie ausgestellt wird. In vorliegender Publikation sind neben seinen Skulputren, aber auch sein malerisches Werk reproduziert. Weitere Beiträge in vorliegender Künstlerbiographie, einem Katalog (24,60 x 28,60 cm gebunden mit Schutzumschlag) , der reichlich illustriert ist, stammen u.a. von Simon Baier, Gian Casper Bott, Dmitrii Dimakov, Jürgen Harten, Yevgraf Kipatop, Nathalie Leleu, Maria Lipatova, Anna Szech.
Tatlin – neue Kunst für eine neue Welt
Hrsg. Museum Tinguely, Basel, Texte von Simon Baier, Gian Casper Bott, Dimitrii Dimakov, Jürgen Harten, Yevgraf Kipatop, Nathalie Leleu, Maria Lipatova, Anna Szech, David Walsh, Roland Wetzel, Gestaltung von Andrea Gruber, Sibylle Ryser
2012. 240 Seiten, 208 Abb. ISBN 978-3-7757-3363-2
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2012-06-27)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.