Das Schicksal guter Literatur ist eng mit dem menschlicher Karrieren verbunden. Wo immer und unter welchen Umständen sie auch entstanden sein mag, zu ihrer Verbreitung ist es erforderlich, dass sie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort erscheint. Viele großartige Werke sind nie zu unserer Kenntnis gekommen, weil diese Werke entweder in Gesellschaften erschienen, die akut mit anderen Problemen zu kämpfen hatten, als die Sujets der Bücher nahelegten, oder sie waren zu verwegen, als dass diese Gesellschaften es wagten, sich damit auseinanderzusetzen. Wenige Schriftsteller ließen sich durch derartige Rückschläge nicht zermürben, nur die Maniaks blieben, wenn es nötig war, selbst Jahrzehnte lang ihren Ideen verhaftet, bis der rechte Zeitpunkt gekommen war.
Der Brite Patrick Hamilton gehörte eher zu den tragischen Gestalten des Genres. Er schrieb zwei exzellente Bücher über das London kurz vor Ausbruch des II. Weltkrieges, der dann alles überblendete, was sich in den Nischen des Daseins abspielte. Als die Zeit gekommen gewesen wäre, war er selbst in dem rauchigen, Whiskey getränkten Milieu versunken, über dessen Spähren er so feinfühlig geschrieben hatte. Mit der Erzählung Hangover Square, die im London vor und bis zur Kriegserklärung an Deutschland spielt, griff Hamilton ein Thema auf, das damals selten in der Literatur Gegenstand war und heute aufgrund des Zeitgeistes gar unmöglich erscheint. Es handelt sich um einen jungen Mann, der um eine attraktive Frau buhlt, die ihn schamlos ausnutzt und erniedrigt. Das ist die Story, mehr nicht, aber so intensiv, dass es schmerzt. Die Handlung spielt in den Bars und Pubs um Earls Court, einem Viertel, in dem die damalige, verarmte Boheme herumlungerte und im Dunst des Alkohols an imaginären Karrieren arbeitete. Die Hauptfigur, George Bone, kratzt sein ganzes Geld zusammen, um sich in eine Clique einzukaufen, die sich um die Schauspielerin Netta Longdon rankt. Von den ersten Zeilen ist klar, dass es in dieser Konstellation und in diesem Leben kein Glück geben wird. Anhand der täglichen Routinen entsteht stattdessen ein dichtes Netz aus Abhängigkeiten, menschlichen Abgründen, verlorenen Illusionen, verderbten Trieben und zertretener Hoffnung. George Bone wird scheitern, er wird das Opfer sein, das als Täter in die Annalen eingehen wird.
Neben einem feinsinnigen Duktus bei der Zeichnung der verschiedenen Charaktere überzeugt Hamilton zudem mit einer subtilen Spannungsdynamik, der es gelingt, Leserin und Leser bis zum fatalen Ende, das nur spektakulär durch seine Folgerichtigkeit wird, zu bannen, denn eigentlich will man diesem Traktat über die menschliche Berechnung auf Kosten der Liebe gar nicht mehr folgen. Mit dem Kunstgriff von Absenzen des wachen, agierenden Bewusstseins zugunsten einer dumpfen, unterbewusst operierenden Agenda schafft Hamilton es zudem, die Reibung zwischen Ich und Es in der Figur des George Bone collagenhaft zu konfrontieren. Die Vielschichtigkeit und der Multiperspektivismus in der literarischen Konstruktion deuten darauf hin, wieviel Potenzial in dem Autor abrufbar gewesen wäre, hätten günstigere Umstände sein Feuer weiter gespeist.
Das Thema selbst ist im gleichen Zeitraum in Deutschland nur in Oskar Maria Grafs Bolwieser bearbeitet worden, der tragischen Geschichte eines Pantoffelhelden. Das Buch ging ebenso unter wie Hamiltons Hangover Square, nur Grafs Oeuvre wurde lange nach dem Krieg und vor der neuen Inquisition von Reiner Werner Fassbinder verfilmt. Hamilton schrieb außer Hangover Square noch Slaves of Solitude, das der Autor ungelesen weiterempfiehlt, sollte es die Stärke des vorliegenden Buches besitzen.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann. (2014-01-26)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.