Der vor nunmehr fast dreißig Jahren erschienene Debut-Gedichtband einer damals als Literaturredakteurin bei Radio Bremen tätigen, ansonsten weitgehend unbekannten Autorin löste einen Lyrikdiskurs aus, der mitunter weniger von der eigentlichen Debatte über die Qualität des Buches geprägt schien als vielmehr von der Tatsache, dass Literaturpapst Reich-Ranicki sein Erscheinen maßgeblich unterstützt und u.a. mit vielen Gedichtabdrucken in der FAZ seit dem Sommer 1979 vorbereitet hatte. Wer immer nun noch ein Hühnchen mit Deutschlands oberstem Literaturgeschmacksrichter zu rupfen hatte, und das waren nicht wenige, trat auch seinem besonders protegierten Schützling vors Schienbein. Dem Siegeszug der Hahn'schen Lyrik tat das beim Publikum keinen Abbruch, bis heute hat die DVA in der bereits 13. Auflage weit über 50.000 Exemplare von "Herz über Kopf" unter die Leser gebracht, ein in diesen Zeiten fast unerhörter Erfolg. Grund genug für eine lyrische Wiederentdeckung: was bleibt nach beinahe drei Jahrzehnten übrig von den Anfängen Ulla Hahns? Ihr souveräner Umgang mit tradierten Formen, sei es dem Sonett, dem Lied, sogar Reimen in allen Variationen ist mitunter Gegenstand von Kritik geworden, der Dichterin wurde "Denkmalspflege", ja sogar Epigonalität vorgeworfen. Aber nach den 1970ern, einem Jahrzehnt ausgeprägter Parlandolyrik, die auf nicht immer geschmackssichere Art und Weise versucht hatte, beim Leser "anzukommen" und mit den kryptischen, hermetischen Gedichten der Vorgängergeneration aufgeräumt, das Normalsprachliche auch zur Norm des modernen Gedichts gemacht hatte - war es da nicht fast unausweichlich, dass sich Stimmen finden mussten, die diesen Umbruch nun ihrerseits wieder relativieren, der Sprache wieder zur notwendigen Balance zwischen Kunst und Authentizität verhelfen wollten? Das ist Ulla Hahn mit ihrem Gedichtband "Herz über Kopf" wunderbar gelungen, eine Leistung, die selbst in den Stimmen junger Lyrik heute durchaus nachklingt.
Das Sujet des weitgehend Privaten, das die Lyrik der Siebziger zu nicht unwesentlichem Teil durchzog, findet sich auch in "Herz über Kopf". Liebesgedichte, die Ironie und Verzweiflung mit knappen Worten umreißen wie der Eröffnungstext "Das wär ein Leben": "...sein tägliches Quantum Rosen/dornenlos wind ich den Kranz ihm/zwitschernd ums göttliche Haupt." oder "Meine Trauer": "Meine Trauer mein blankes/Kupferkesselchen blank-/geputztes/Komm wir setzen uns/ Tränen auf/aber mit/Grazie mild wie/Vanille wollen wir/ihm doch/gefallen/wenn er/nie mehr wiederkommt." Hahn webt vielerlei literarische Anlehnungen ein, angefangen bei Walther von der Vogelweide ("darein hatt' ich gesmôgen/das kin und ein mîn wange/viel lange Zeit") bis hin zu Brecht ("als ich heute von dir ging"), die die Literaturgeschichte zitieren und für den Kontext der eigenen Verse urbar machen. Dieses Aufrufen von Tradition wirkt aber nie affektiert, weil sich die Realität des Gedichts ironisch an ihr bricht: es sind offenbar immer noch die gleichen Gegebenheiten, an denen Liebe und Beziehung scheitern oder auch (für den Augenblick) gelingen können. Märchen - und Sagenmotive (Dornröschen, Loreley) werden ebenso leicht und zwingend verarbeitet und verfremdet wie Redewendungen, die plötzlich wieder eine runderneuerte Bedeutung erhalten, z.B. wenn sie von Hölderlin spricht: "ja ich weiß ich kann ihm nicht/und dir nicht das Wasser reichen/aber mir reinen Wein." Der politischen Instrumentalisierung des Dichters erteilt sie eine klare Absage, freilich ohne gänzlich unpolitisch zu sein - sonst schriebe sie überhaupt erst gar nicht darüber: "Ihr Kampfgenossen all//Ihr könnt mich mal/mir hängt mein Grinsen/schon längst zum Maul raus ich/geh lieber in die Binsen//schnitz mir aus Schilfrohr/eine helle Flöte/blas auf dem letzten Loch/der Abendröte//"Dem Morgenrot entgegen"". Letzteres ist auch wieder ein Zitat, diesmal der Titel eines Kampfliedes aus der Arbeiterbewegung vom Anfang des 20. Jahrhunderts.
Die Gedichte, die sich mit der Verarbeitung deutscher Weltkriegsgeschichte und den Greueln der Nazizeit befassen, geben erneut Einblick in die Tiefe der Empfindungs- und Ausdrucksfähigkeit der Autorin ("Hildegard L. Kommandanturstabsmitglied der SS in Majdanek", "Ein alter Brauch", "Fernsehbild vom Foto einer jüdischen Frau im KZ"). Nach Liebe und Gesellschaft kommt Hahn zur dritten Abteilung ihres Erstlings, der Reflexion der eigenen Arbeit, verteidigt ihren traditionalistischen Ansatz, z.B. in "Ars poetica": "Danke ich brauch keine neuen/Formen ich stehe auf/festen Versesfüßen und alten/Normen Reimen zu Hauf". Aller Kritik an ihrem Schaffen, sei sie ablehnend oder wohlwollend, erteilt sie letztendlich eine Absage und tut doch auch dies wieder mit dem ihr eigenen ironischen Unterton, der die Bedeutung ins Gegenteil umkehren kann, wenn der Leser es will: "...Kusch dieses Wort/hat zu bleiben da setz ich es/ein. Niemand redet dich aus/deinem Maß mein Gedicht wie/angeboren am Ziel." Mit diesen Versen endet der Band "Herz über Kopf". Ulla Hahn ist hier rückblickend ein Werk gelungen, das eine große Leserschaft für das Gedicht neu erschlossen hat, das unter Bezug auf die Tradition nach fast dreißig Jahren selbst dabei ist, zum Klassiker der modernen Lyrik zu werden.
[*] Diese Rezension schrieb: Marcus Neuert (2009-11-22)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.