Nachdem die große deutsche Lyrikerin Ulla Hahn im Jahr 2001 mit „Das verborgene Wort“ den ersten Teil der Lebensgeschichten ihres Alters Egos Hilla Palm erzählte und dafür den Deutschen Bücherpreis erhielt, ließ sie im Jahr 2009 auf ebenfalls über 600 Seiten den zweiten Teil folgen unter dem Titel „Aufbruch“. In beiden Romanen zeigte sie sich nicht nur als eine wahre Künstlerin und Akrobatin des Wortes und seiner ihm innewohnenden Kraft, sondern auch als eine große Meisterin epischer Darstellung.
Nachdem Hilla im zweiten Band gegen Ende zum Opfer einer Vergewaltigung wird, für die sich selbst die Schuld gibt – sie nennt sich Hilla Selberschuld – verlässt sie, zumindest unter der Woche, ihren Heimatort Dondorf am Rhein und zieht als Studentin nach Köln, wo sie in einem katholischen Wohnheim nicht nur eine Bleibe, sondern auch Freundinnen findet.
Auch im neuen Roman „Spiel der Zeit“ erzählt Ulla Hahn mit großer Sprachmacht in einem Gewebe aus Erfahrung, Erfindung und Dokumentation. Dabei ist sie selbst hin- und hergerissen: „So sehr ich weiß, dass es weitergehen muss, so dringend mein erzählerisches Pflichtgefühl gebietet, Hilla endlich vorwärtszuschicken ins neue Leben, so mächtig treiben mich meine Gefühle zurück zu den Orten und Menschen meiner Kindheit. Erst jetzt beim Schreiben merke ich das. All das Neue, das Hilla erlebt, wird erst neu, wird erst zur Gewissheit, zum Eigen, wenn es sich widerspiegelt im Alten, wenn es zum Vergangene in Beziehung gesetzt wird.“
Das ist quasi das Credo, das sich durch das gesamte Buch zieht, das ich gelesen habe, indem ich mir jede freie Minute gestohlen habe, um nicht unterbrochen zu werden. Nicht nur in einem spannenden und bewegenden Handlungsablauf in einer studentenbewegten Epoche, die ich als jugendlicher Schüler selbst in Erinnerung habe, sondern auch in einem sprachlichen und poetischen Reichtum, den ich so schon lange nicht mehr bei irgendeinem Buch genießen konnte.
Als sie im Fasching 1967 den buckligen Hugo kennenlernt, einen Spross einer reichen und alteingesessenen Kölner Familie, blüht Hilla auf. Ihre Gespräche über Literatur, Poesie und Politik lassen die beiden ebenso zusammenwachsen, wie ihre theologischen Reflexionen. Beide sind sie in ihrem katholischen Glauben verwurzelt, und brechen doch so wie vielen andere zu dieser Zeit zu neuen Ufern auf.
Doch die radikalen Auswüchse der Studentenbewegung stoßen beide ab. Ulla Hahn lässt Hilla und Hugo nicht nur Rudi Dutschke bei einem Vortrag in der Kölner Uni begegnen, sondern schickt sie auch auf den Essener Katholikentag.
Auf diese Weise verwebt Ulla Hahn starke Elemente eines Entwicklungsromans, obwohl er nur etwa drei Jahre umfasst, aber immer wieder die Gegenwart mit der Vergangenheit in Verbindung bringt, mit den Konturen eines imposanten Epochengemäldes des 68- er Jahre. Da geht es um Sehnsucht und Leidenschaft, vor allem in der Beziehung Hillas zu Hugo, es geht um den schier unüberbrückbaren Graben zwischen arm und reich am Beispiel der Familien von Hilla und Hugo, es geht um selbstverantworteten Glauben an Dendaoben in einer sich verändernden Welt voller Gewalt und Ungerechtigkeit. Und es geht darum, wie Liebe alte Verletzungen heilen kann.
„Spiel der Zeit“ ist ein großer autobiographisch geprägter Roman und ein gelungener Abschluss einer Trilogie, die sich über die ersten beiden Jahrzehnte Nachkriegsdeutschlands erstreckt. Eine wahre Liebeserklärung an die Sprache, ihren Reichtum und ihre Schönheit und ein Loblied des Lebens und dessen, der es schenkt und bewahrt.
Ulla Hahn, Spiel der Zeit, DVA 2014, ISBN 978-3-421-04585-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-10-15)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.