Im letzten sehr erfolgreichen Buch „Der Geschmack von Apfelkernen“ der in Hamburg lebenden Autorin Katharina Hagena wurde die Geschichte von Iris erzählt, einer jungen Frau, die sich nach dem Tod ihrer Großmutter Bertha damit konfrontiert sieht, dass diese ihr das Haus vererbt hat, in dem sie lange lebte und das Iris aus ihrer Kindheit sehr gut kennt.
Mit einer wunderbaren und poetischen Sprache voller Hinter- und Tiefsinn war es Katherina Hagena in diesem Buch gelungen, Iris nicht nur auf die Spur in die eigene Kindheit zu setzen, sondern auch in die Geschichte ihrer Verwandtschaft:
"Und ich stellte fest, dass nicht nur das Vergessen eine Form des Erinnerns war, sondern auch das Erinnern eine Form des Vergessens."
Die Seelenarbeit der Portagionisten hatte damals für den Leser selbst etwas Heilendes.
Und so habe ich mit Spannung den neuen Roman von Katharina Hagena begonnen,und ich wurde auch dieses Mal nicht enttäuscht. Denn auch die Ich-Erzählerin des Buches „Vom Schlafen und Verschwinden“, Ellen Feld, ist an irgendeinem Punkt ihres Lebens mit der Frage ihrer bisherigen Lebensgeschichte konfrontiert. Und sie muss zusammen mit einem mit jedem weiteren Kapitel von der Handlung gebannteren Leser langsam erkennen, welche bislang unbekannten Menschen und Geschehnisse ihr Leben geprägt haben.
Jedes Kapitel beginnt mit einer kursiv gedruckten, chronologisch fortlaufenden Notiz aus Marthes Chortagebuch. Sie ist vor einiger Zeit in den kleinen Ort Grund am Rhein in der Nähe von Karlsruhe gekommen und hat sich sofort bereit erklärt, in einem kleinen Chor mitzusingen, den der Vater Ellens gründet, um John Dowlands (1562-1626) Lied „Komm, schwerer Schlaf“ einzuüben. Der Chor soll es bei der Beerdigung der unheilbar kranken Mutter Ellens singen.
Ellen Feld, von Beruf Schlafforscherin und selbst unter schweren Schlafstörungen leidend, erzählt die Geschichte aus einer rückblickenden Perspektive. Sie lebt mit ihrer fast erwachsenen Tochter Orla mittlerweile in Hamburg, nachdem eine Beziehung mit einem Mann namens Declan in Irland scheiterte. Ellen und Orla gingen danach wieder zurück nach Grund, wo sich im Zusammenhang mit der Einübung von „Komm schwerer Schlaf“ die Haupthandlung zuträgt.
Ist die Verfasserin der Chortagebuchs, Marthe, zunächst noch eine fast unsichtbare Person, deuten doch ihre Aufzeichnungen immer mehr darauf hin, dass sie mit der Lebensgeschichte von Ellen Feld und deren Tochter Orla mehr zu tun hat, als diese denken. Langsam und behutsam, mit viel Poesie von Liebe und Tod erzählend, entwirrt Katharina Hagena in vielen Rückblicken Ellens die Schicksalsfäden dieser beiden Frauen und führt den Leser in tiefe Reflexionen über die Macht des Schlafs. Sie zeigt schlussendlich, warum und wofür es sich lohnt, wach zu bleiben und der verhängnisvollen Anziehungskraft des Schlafes/Todes zu widerstehen.
Der neue Roman von Katharina Hagena ist ein würdiger Nachfolger ihres letzten Buches. Ein dichtes, poetisches Buch mit einer hohen Spannung bis zum Ende.
Katharina Hagena, Vom Schlafen und Verschwinden, Kiepenheuer & Witsch 2012, ISBN 978-3-462-04482-9
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-07-29)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.