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Rawi Hage - Kakerlake
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Hage, Rawi:
Kakerlake

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(Bücher frei Haus)

Wunschloses Unglück

Fast verwandelt er sich wirklich, so intensiv und fühlbar werden seine Zähne länger, imaginäre Fühler drängen aus der Stirn. Vor allem, wenn er dem weiblichen in einer attraktiven Form über den Weg läuft. Am liebsten würde er klein und noch kleiner unter die Fußsohlen kriechen, um die Begehrte von unten zu bewundern.
Durchtrieben und bedürftig, das ist sein Charakter. Momentan ist sein anbetender Blick auf Schoreh gefallen, aber, wie immer, steht ihm seine Unbeholfenheit dem Weiblichen gegenüber im Wege.

Zudem stellt sich bereits auf den ersten, wunderbar lakonisch nebenbei im Buch geschildert, Seiten heraus, dass der Ich Erzähler ein notorischer Dieb ist, in früheren Zeiten darunter litt, dass in diesen nördlichen Breiten der zivilisierten Welt kaum ein Vorwand geliefert wird, eine ordentliche körperliche Auseinandersetzung zur allgemeinen Entspannung auf den Weg zu bringen und überhaupt wird klar, dass die emotional dichte innere Veränderung zur Kakerlake hin nicht nur in Bezug auf den Umgang mit Frauen im Raum steht,
Die gesamte Lebensform des namenlos bleibenden Ich-Erzählers macht es überlebensnotwendig, unscheinbar durch diese Welt zu gleiten. Und dabei ein Fremder zu sein und zu bleiben, auch sich selbst gegenüber.

Der aktuell in aller Munde gewendete Begriff „Migrationshintergrund“ liegt beim Erzähler nämlich vor. Da muss er vorsichtig sein, fast unsichtbar, nicht anecken. Nur um dann von den herabfallenden Brosamen vom Tisch der reichen Gesellschaft ein wenig mit leben zu dürfen. Er ist einer dieser unsichtbaren, dienstbaren Geister, der Glück kaum kennt und stillschweigend nur die Aufgabe hat, die Dinge der Gesellschaft im Hintergrund am Laufen zu halten. Aber wehe, es stellt sich heraus, dass er eigentlich Ungeziefer ist. Da rückt auch seine Therapeutin mit ihrem Stuhl ein Stück zurück. Auch hier Befremden.

Bei dieser soll der Erzähler seinen Suizidversuch aufarbeiten und beginnt widerstrebend, seine Geschichte zu erzählen. Aber ist es wirklich seine wahre Geschichte? Oder windet er sich wieder einmal unter irgendwelchen Fußsohlen hindurch, um unentdeckt zu bleiben?

Kleinkrimineller, Dieb, Einbrecher, aber auch das ernährt ihn kaum und so geht er den Weg des klassischen Tellerwäschers in einem Restaurant und wird dort mit Schorehs Leidensgeschichte konfrontiert. Eine Konfrontation die im letzten Drittel des Buches mehr und mehr eskaliert, eigentlich eher implodiert, denn was macht einer, der sich in der Tiefe für eine halbe Kakerlake hält, wenn er wütend wird?

Rawi Hage schreibt in einer mit hinein nehmenden Sprache mit großem Wortschatz und einer immer auf den Punkt treffenden, bildhaften Ausdrucksweise. Allein schon die farbigen Ausleuchtungen des inneren Erlebens seines Protagonisten, wenn er „wie ein Wolf“ der begehrten Frau hinter her streunt und sich an deren Toilettengang ergötzt, ist in einer Art dargestellt, die das innere Erleben der Figur unmittelbar erfahrbar macht.

Wie sich zudem der Erzähler (und in seiner Person sicherlich vielfach andere ins einer Lage) als Immigrant versucht, durch zu lavieren, nicht beachtet wird und wenn, dann oft mit einem Blick zunächst, als wenn man Ungeziefer betrachtet, wie seine ständigen Versuche, zumindest indirekt auch in erotischer Weise voranzukommen kläglich scheitern und darin ein Bild wiederum verborgen liegt, wie es ihm letztlich nicht gelingt, an die attraktive Lebensform der westlichen Gesellschaft Anschluss zu finden, dass alles beschreibt Rawi Hage bis zum bitteren, gewaltsamen Ende auf der letzten Seit mit großer Sprachkultur, präziser Beobachtungsgabe und der schriftstellerischen Möglichkeit, all dies auf den Punkt dem Leser mit zu teilen.

Seite für Seite versteht man mehr, was ein Zustand „wunschlosen Unglücks“ ist und, neben der tragenden Geschichte vom begehrenden und sich letztlich rächenden Protagonisten, erfährt ein gutes stückweit aus der Innensicht heraus, wie wenig integrativ unsere Gesellschaftsform letztlich ist. Wunderbar sprachlich mit teils schwärzestem Humor, geschrieben zudem folgt der Lektüre das eigene Erschrecken über dieses Fremdsein.

[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2010-09-18)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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