Was tun, wenn die eigene Mutter in der niedersächsischen Provinz an fortschreitender Demenz leidet, man selber aber in Berlin Kreuzberg als Arzt und, leider, Junggeselle sein eigenes Leben versucht, in neue und befriedigendere Bahnen zu lenken. Eine echte, rundum zufriedenstellende Beziehung, das wäre es. Solange dies aber nicht im Raume steht, ist der Freundeskreis Dreh- und Angelpunkt des Lebens. Alix, Anton, Jan und Bernd, bereits bekannt aus dem ersten Roman der Kreuzberger Betrachtungen von Katharina Hacker bilden die Ersatzfamilie mit je eigenen Ausprägungen, Sehnsüchten und, natürlich, Lebensproblematiken.
Eine Konstante dieses Lebenskreises war die jährliche Lieferung von Erdbeermarmelade an die Freunde durch Antons Mutter. Doch in diesem Jahr blieb die Marmelade aus, ein Zeichen, wie weit die Demenz der Mutter bereits fortgeschritten ist. Und ein Zeichen für Anton, den vertrauten, immer noch nachwirkenden Lebensabschnitt der Kindheit fahren zu lassen und sich mit aller Kraft der zweiten Lebenshälfte nun zu zuwenden. Einfacher gesagt aber, als getan. Ein ständiger Hauch von Melancholie umweht die Protagonisten des Buches, im besonderen Anton. Eine seltsame Mutlosigkeit, die in ständiger Reibung mit dem hohen Bedürfnis nach Liebe und Hingabe steht. Doch Hoffnung taucht auf am Horizont. Lydia, ebenfalls Ärztin, tritt in Antons leben und mit einem umeinander kreisenden Reigen aus Annäherung und Distanz, aus Versuch und Kraftlosigkeit beginnen, zarte Bande zu sprießen.
Unterbrochen von seinen Besuchen bei seiner Mutter. Besuchen, denen in der Dramaturgie des Buches eine besondere Rolle zukommt, denn nirgends sonst wird die Diskrepanz zwischen dem nüchternen, realen Leben des Arztes Anton, der die Krankheit und deren Verlauf kühl diagnostiziert und der Privatperson Anton, noch verhaftet in der romantischen Verklärung der Kindheit als einer Zeit voller Optionen und Möglichkeiten, die nun innerlich verlustig gehen angesichts der Brüchigkeit und Flüchtigkeit möglichen Glücks.
Ebenfalls sieht er sich im Lauf der Geschichte mit der Vergangenheit Lydias konfrontiert, die ihre Schatten in die Gegenwart wirft und ihn nicht zur Ruhe kommen lässt.
Für Aufregung, Finden eines Umganges mit Verlust und das Knüpfen neuer Bande in unter schwierigen Startvoraussetzungen ist im Buch also gesorgt. Momente des modernen Lebens der Generation um die 40, die sich vielfach, wenn auch nicht in solch geballter Form, im Alltag der Städte wiederfinden. So hat die Geschichte, obwohl von Katharina Hacker in einem überschaubaren Umfeld angesiedelt, eine Vielzahl generalisierender Elemente, die über das Buch hinaus ihre Wirkung entfalten. Als genau Beobachterin gelingt es ihr, die handelnden Personen in ihrer inneren Befindlichkeit und Entwicklung genau zu erfassen und zu schildern, inwieweit die eigene Ohnmacht im Blick auf die eigenen Sehnsüchte das Leben doch bestimmt.
Personen, geschildert in der modernen Welt, versehen mit allen Orientierungslosigkeiten, aber auch Sehnsüchten der heutigen Zeit auf dem Weg zu einem kleinen Glück mit all den Hindernissen des Alltages, die Katharina Hacker auch in teils fast surrealen Momenten zu beschrieben weiß (der Schneckenkrieg am Ende des Buches lohnt fast alleine das Lesen). Auch die Nebenfiguren aus Lydias Vergangenheit, der ehemalige Fremdenlegionär und ehemalige Beschützer Lydias Rüdiger und der kleinwüchsige Martin, der seinen Freund Rüdiger mit Macht beschützt und Anton bis in die niedersächsische Provinz hinein verfolgt, erhalten klare Konturen.
Der Kampf um das „bisschen Glück im Leben“ ist in diesem Buch nicht nur ein Ringen mit äußern Umständen und Altlasten, sondern immer auch ein innerer Kampf gegen sich selbst und seine geprägten Vorstellungen. Sprachlich empathisch umgesetzt, flüssig lesbar und immer nahe an den handelnden Personen und damit auch am Leser findet sich., genauestens beobachtet, die Zerrissenheit zwischen idealen Vorstellungen, Sehnsüchten und den Beschränkungen der eigenen Möglichkeiten Seite für Seite wieder. Durchaus empfehlenswert für einen Blick hinter die Kulissen modernen Lebens.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2010-07-15)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.