Der Mensch lebt seit Anbeginn in Räumen. Raum ist damit ein Grundkonzept menschlicher Betrachtung und Orientierung.
Zu Beginn betraf die räumliche Orientierung des Menschen allein das sensorisch Wahrnehmbare an Umgebung, aus den Erfahrungen mit der Umgebung bildete sich der Anschauungsraum des Menschen. Die räumliche Wahrnehmung und die Betrachtung der räumlichen Existenz haben in der Kulturgeschichte davon ausgehend eine hoch differenzierte Entwicklung erfahren, die von der Antike mit der Entfaltung mathematisch-abstrakter Räume bis hin in die Moderne und Postmoderne in mediale, literarische und urbane Raumbetrachtungen hinein reicht.
Das Handbuch bietet nicht nur einen aktuellen, kulturwissenschaftlichen Blick auf die aktuelle Raumdebatte, sondern erhebt die Wurzeln und Wendungen des Raumbegriffes im Rahmen der Kulturgeschichte. Von der Vorgeschichte des Raumthemas in Naturwissenschaften und Künsten bis zur gegenwärtigen Debatte um die Methode der Raumanalyse reicht der Bogen, den das Handbuch spannt.
Dreh- und Angelpunkt der Darstellung auf gut 320 Seiten ist der Paradigmenwechsel in der Raumbetrachtung, die „Wende zum Raum“ (spatial turn). Voraussetzungen, Entwicklung und Konsequenzen dieser Wende werden in den drei Hauptteilen des Buches dargelegt, zudem wird auf Perspektiven verwiesen, die sich aus diesem Paradigmenwechsel auch für die Zukunft ergeben.
Ausgehend von den Voraussetzungen der Raumforschung vom Beginn der Evolution über die Antike bis in die Moderne hinein werden im Blick auf Naturwissenschaften, Geowissenschaften und bildende und darstellende Künste die geschichtlichen Entwicklungen und Differenzierungen des Raumbegriffes nachvollzogen. Schon in diesem Blick auf die Entwicklung wird in differenzierter und fachlich tiefer Betrachtung die Raumentfaltung in haptischer und abstrakter Weise umfassend und fächerübergreifend in bester Weise dargestellt.
Der zweite Teil wendet sich den Wendepunkten der Raumbetrachtung zu, Raumkehren wie die kopernikanische Wende, der spatial turn (im Blick auf Human-und Kulturgeographie, besonders aufgenommen in geschichts- und sozialwissenschaftlicher Hinsicht) und der den spatial turn für den Bereich der Kultur- und Medienwissenschaften differenzierende topographical turn finden hier eine würdigende Betrachtung, auch in kritischer Hinsicht.
Auf dieser Basis der wissenschaftlichen Voraussetzungen und der das gegenwärtige Denken beeinflussenden Raumkehren wendet sich der dritte Teil in umfassender Weise den gegenwärtigen Anwendungsfeldern der Raumforschung und der aktuellen Forschungsdiskussion zu.
Dieser Teil ist, nicht nur aufgrund seines Umfanges von fast 200 Seiten, als Hauptteil des Handbuches zu bezeichnen. Vom Archiv als Erinnerungsort über den politischen Raum öffentlicher Diskussion, den sozialen Raum individuellen und gesellschaftlichen Lebens, der Betrachtung medialer Räume, der Vertiefenden Betrachtung des kognitiven Raums reicht der Themenkanon bis hin zur Diskussion des urbanen Raums (Stadtentwicklung) und dem poetischen Raum der Literatur.
Alle Kapitel sind übersichtlich aufgebaut und spiegeln die Vielfalt zum einen der vorhandenen Räume und zum anderen der vielschichtigen Betrachtungsweise der einzelnen Räume in der Entwicklung und wissenschaftlichen Diskussion wieder, ohne dabei an Konzentration zu verlieren. Allein schon der Blick auf die Darstellung und Diskussion des urbanen Raumes und besonders der Ansätze moderner Stadtentwicklung eröffnet ein Verständnis auf mögliche, zukünftige Entwicklung des Raumthemas im modernen urbanen Gefüge in der Verbindung zwischen gestalteter Räumlichkeit und baulicher Masse. Das Verständnis der Stadt als ein „fragmentarisches Gebilde“ könnte hier zukunftsweisend für eine moderne Stadtplanung bleiben.
Das Handbuch bietet somit eine Zusammenfassung verschiedenster, vor allem kulturwissenschaftlicher Denkansätze und Forschungsfelder, die gerade in der Zusammenschau ein breites und konzentriertes Bild auf den Raum in all seiner Vielfalt bieten. Jedes der Kapitel ist fundiert erarbeitet, mit eigenen Literaturhinweisen versehen und erfüllt den hohen Anspruch an die, nicht immer leicht zugängliche, Themenvielfalt und der Entwicklungen des Raumbegriffes. Ableitungen für die praktische Relevanz sind jederzeit möglich. Gut 35 Seiten Literaturverzeichnis geben allein schon einen deutlichen Hinweis auf die Breite der Diskussion.
Das Handbuch bietet eine umfassende, trotz komplexen Themas und Sprache verständliche, Darstellung auf Entwicklung, Geschichte, Wendepunkte, aktuellen Forschungsstand und Verweise auf die zukünftige Diskussion des Begriffes „Raum“ und seiner vielfältigen Bedeutungen und Ausformulierungen.
Seinem interdisziplinären Anspruch wird das Buch aufgrund der umfassenden Betrachtungsperspektiven vollständig gerecht, die breiten Literaturangaben am Ende der einzelnen Kapitel und im Anhang ermöglichen zudem in bester Weise die vertiefende Weiterarbeit.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2010-06-08)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.