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Norbert Gstrein - Die ganze Wahrheit
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Gstrein, Norbert:
Die ganze Wahrheit

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(Bücher frei Haus)

Der Verleger Heinrich Glück wechselt kurz vor seinem Dahinscheiden noch seine Frau und gerade diese entpuppt sich als wahre Schreckschraube, die ihn vielleicht sogar schneller ins Grab gebracht hat, als er dies wollte. Dagmar, die neue, verfasst zudem noch seinen Nachruf, was wiederum den Protagonisten und Ich-Erzähler des Romans dermaßen in Rage bringt, dass er seinen sicheren Posten als Lektor beim Verlag verlässt. Norbert Gstrein charakterisiert eine Frau, die man wirklich hassen lernt, so gut ist seine Persiflage auf eine moderne, esoterisch angehauchte Karrierefrau gelungen, dass man sogar mit dem fiktiven Heinrich Glück Mitleid bekommt.
Besonders herausragend sind auch die versammelten Stilblüten, die der Autor als Lektor verraten darf. Das österreichische „coast to coast“ sei vom Bodensee zum Neusiedlersee, Dagmar mache aus ihrem Leben „eine Schnurre“, die Adabeis seien Teil einer „ebenso feine wie halbseidene Gesellschaft“ und viele andere Ausdrücke mehr lernt der Leser bei der Lektüre des neuen Norbert Gstrein Romans kennen, dass es wirklich wieder eine Freude ist, weiterzulesen. Wie der Lektor in Gstreins Roman, so dürfte auch der Wahlberliner Gstrein selbst die österreichische Provinz hassen, die er mit folgenden Worten beschreibt: „(…)sie ist mir ferner als jedes Ausland und wenn ich schon aus Wien hinaus muss, bin ich froh, wenn ich nach Ungarn, Tschechien oder in die Slowakei kann oder schnell durch die Steiermark durch bin und in Slowenien oder Kroatien…“.
Leider wird man aber mit fortschreitender Lektüre aber nicht den Eindruck los, dass hier ein Rachefeldzug gegen eine wirklich existierende Person geführt wird, was dem Autor keineswegs missgönnt sei, im Gegenteil. Solange man an solch herrlichen Auslassungen wie „eine Pausbäckigkeit, wie man sie nur in der österreichischen Provinz findet, eine Mischung aus Naivität und Verschlagenheit“ teilhaben darf, ist eine solche unflätige Ausdrucksweise mehr als ein Hochgenuss. Allein wie der diese Dagmar beschreibt, so möchte man auch im realen Leben schimpfen können: „ihr Psychojargon war für mich die schlimmste Form der Pornographie, abstoßender als jede andere“ und als Lektor bekomme er davon immer Fieberblasen oder einen Hautausschlag, beklagt sich der Protagonist. Schimpfen und sudern waren immer schon zwei wirklich Wienerische Eigenschaften und Gstrein übertrifft sich noch selbst: Hinter „ihrer schwülstigen Wärme, mit der sie alle einzuwickeln versuchte“ verberge sich „eine erschreckende Kaltherzigkeit“ und ihr Lachen war „laut und vulgär und wie das einer altgedienten Kellnerin in einem Säuferlokal“, wenn sie darauf vergaß, sich zu beherrschen, beobachtet der Protagonist treffend. Sie wollte unbedingt allen gefallen und wäre „wie ein Kind gewesen, das die Erwachsenen von der Wahrheit eines Märchens überzeugen wollte“.
Am Ende beeindruckt vor allem diese Ausdrucksweise, die Eleganz der Sprache und weniger die Handlung selbst. Etwa wenn der Protagonist das Geräusch, das sein Nacken machen würde, wenn er sich selbst daran fassen würde und sich an ihm mit ruckendem Kopf hochziehen würde, mit dem Knacken von Büchern, das man über ihren Rücken bricht, vergleicht: „schrrrg“, „grrrg“, dann hört man es tatsächlich knacken! Ein fulminanter Abgesang auf einen aussterbenden Beruf, eine grandiose Beschimpfung, wie sie österreichischer nicht sein könnte.

Norbert Gstrein
Die ganze Wahrheit. Roman
Hanser Verlag

[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2011-02-20)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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