Der neue Roman von Arnon Grünberg ist entstanden nach zwei sehr persönlichen Erfahrungen des Autors. Zum einen war er sozusagen als Vorbereitung zu dem einen das Buch durchziehenden Themenstrang im vergangenen Jahr freiwilliger Patient einer psychiatrischen Anstalt in Belgien, um dort Erfahrungen für sein Buch sammeln. Er hat schon etliche solcher Feldversuche unternommen, was seinen Büchern immer eine durch persönlich erlebte Realität gewonnene Authentizität gibt.
Die andere persönliche Erfahrung war die Pflege seiner eigenen Mutter, deren Erinnerungen etwa zeitgleich mit „Muttermale“ unter dem Titel „Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich keine Zeit“ bei Kiepenheuer & Witsch erschienen sind.
Die Hauptfigur des von Rainer Kersten und Andrea Kluitmann aus dem Niederländischen übersetzten Romans ist Otto Kadoke. Er ist etwa Mitte vierzig (so wie Grünberg selbst) und arbeitet als Psychiater in einem Krisenzentrum. Dort ist es seine Aufgabe, auch immer wieder in langen Nachtdiensten, Menschen vom Selbstmord abzuhalten, d.h. in der Regel zu entscheiden, ob in einem konkreten, meist von der Polizei gemeldeten Fall eine Zwangseinweisung in eine Psychiatrie angezeigt ist oder nicht. Arnon Grünbergs Beschreibung dieser Kontakte zwischen Therapeut und Patient sind meisterhaft und charakterisieren den professionell kühlen Kadoke auf der einen und die Verzweiflung der in seelische Not geratenen Menschen auf der anderen Seite.
Doch der Psychiater Kadoke ist nicht nur in seiner Profession der eher kühle, emotionslose Typ. Auch in seinem Privatleben drückt er Emotionen weg, außer in seiner Beziehung zu seiner Mutter, die etwas seltsam Inzestuöses hat. Eigentlich ist es gar nicht seine Mutter, sondern sein Vater, der nach dem Tod der eigentlichen Mutter deren Aussehen und Rolle übernommen hat, so spricht und handelt wie sie.
Die beiden Pflegerinnen aus Nepal, die Kadoke engagiert hat, wissen das und gehen locker damit um. Doch als Kadoke eines Tages wie immer seine Mutter besuchen will und die Pflegerin Rose nur mit einem knappen Handtuch bedeckt ihm die Haustür öffnet, hält er sein plötzliches Begehren für Liebe und penetriert die junge Frau, die das auch geschehen lässt. Kurz darauf steht der nepalesische Freund von Rose vor der Tür und verprügelt Kadoke nach Strich und Faden. Die Tätigkeit der beiden Frauen ist beendet und Kadoke muss die Pflege der Mutter zunächst selbst übernehmen.
Der Vorfall mit Rose geht ihm das ganze Buch über nicht aus dem Sinn. Er, der professionell Kühle, hat große Probleme mit Nähe zu Frauen und mit starken Gefühlen wie Liebe. Eine schwarze Assistenzärztin namens Dekha, mit der er viele Nachtdienste verbringt, versucht, so etwas wie eine nahe und intime Beziehung zu ihm aufzubauen, doch Kadoke wehrt alles ab.
Auch nachdem er mit Michette, einer Frau mit einer langen psychiatrischen Karriere, in einem waghalsigen und absolut regelwidrigen alternativen Therapieprojekt, eine ehemalige Patientin als Pflegerin seiner Mutter ins Haus holt, muss er sich von dieser intelligenten Frau erklären lassen, was der Zusammenhang zwischen Leiden und Leben ist.
Besonders die fünf Muttermale an seinem Rücken haben es Michette angetan, und sie will sie immer wieder streichelnd berühren. Hier wird die Symbolik einer extremen Mutter-Sohn-Beziehung deutlich, wie es sie vielleicht nur bei Kindern von überlebenden Holocaust-Opfern gibt (Kadokes Mutter war im Lager, so wie auch Arnon Grünbergs Mutter es gewesen ist).
Kadoke lässt irgendwann die Muttermale entfernen, doch ob er sich von dem Mal der Mutter lösen wird, bleibt offen. Genauso wie die Frage, ob er, der sich die tragischen existentiellen Probleme seiner Patienten durch professionelle Kälte lange Zeit vom Hals gehalten hat und damit auch das ganze Leben selbst, durch die Begegnungen mit Michette und der Assistenzärztin Dekha sich einem Leben öffnen kann, in dem er Liebe, Nähe und Gefühle zulassen kann.
Ein starker Roman, der mich im raschen Wechsel zum Lachen gebracht und ganz tief berührt hat. Ein schräges Buch, das viel erzählt vom Leben und wie man auch daran vorbeileben kann. Ein Buch, das trotz aller Tristesse seiner Protagonisten so etwas wie Hoffnung ausstrahlt.
Aaron Grünberg, Muttermale, Kiepenheuer & Witsch 2016, ISBN 978-3-462-04925-1
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2016-11-23)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.